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Leitkultur oder Kultur light?
Die US-Kultur ist nicht nur Fast Food und Reality-TV. Themen wie Intersektionalität beeinflussen gesellschaftliche Debatten
Howdy aus Texas, liebe Lesende,
der Independence Day ist für Nichtamis schwer zu begreifen. Er ist eine Mischung aus unserem Silvester (Feuerwerke und Böller, selbst verschuldete Verletzungen, verängstigte Hunde), Karneval (grölende, alkoholisierte, rot-weiß-blau gekleidete Truppen, flankiert von zahlreichen Umzügen und Paraden) und dem unverdaulichsten Essen, das man sich vorstellen kann. Vor vielen Jahren, als ich als Touristin zum Unabhängigkeitstag in den USA weilte, war ich überwältigt von der positiven Stimmung und der Heimatliebe und tief enttäuscht von dem so hochgepriesenen »Corn Dog«, dem schlechtesten Bratwürstchen der Welt, umhüllt vom pappigsten, genmanipuliertesten Teigmantel der Erde, getaucht in das süßeste Ketchup des Planeten. Aber ich betone, die Vibes waren klasse.
News aus Fernwest: Jana Talke lebt in Texas und schreibt über amerikanische und amerikanisierte Lebensart.
In den letzten Jahren nimmt der 4.-Juli-Enthusiasmus jedoch ab. Immer mehr junge Amerikaner scheinen sich zu wünschen, Großbritannien würde sie wieder kolonisieren – sie sehnen sich nach gesetzlicher Krankenversicherung, besserer Lebensmittelqualität, Abschaffung der Studiengebühren und Einführung von Fußgängerzonen. Gleichzeitig wollen sie natürlich ihre US-Gehälter behalten, denn wer will schon downgraden?
Ältere US-Patrioten beklagen dagegen die Spaltung der Gesellschaft in Gläubige und Ungläubige, negieren die Existenz von Nichtheteros und haben nichts mehr zu trinken, weil sie jetzt Bud Light boykottieren: Die führende Biermarke der USA hatte nämlich eine einzige (!) Dose mit dem Gesicht einer transsexuellen Influencerin produziert und damit bei unwoken Amerikanern für Unmut gesorgt. Der Sänger Kid Rock filmte sich gar dabei, wie er mit einem Gewehr auf Bud-Light-Bierdosen schoss. Eine schwache Geste, die aber durchaus zum Geschmack dieses Gerstensafts passt.
Ich bin gegen die »Wir schaffen uns ab«-Debatte, egal in welchem Land ich mich befinde. Zwar bin ich mit vielem in den USA unzufrieden, aber das war ich in Deutschland auch. Nur bin ich in Amerika mit mehr zufrieden, als ich es in Deutschland war … Können Sie mir noch folgen? Und statt Untergangsszenarien der USA heraufzubeschwören, konzentriere ich mich lieber auf das, was sie für mich persönlich zum besten Land der Welt macht.
Wenn Sie länger mitlesen, wissen Sie, dass ich garantiert nicht die Kulinarik damit meine. Was mich stattdessen schon immer beeindruckt hat, ist die amerikanische Mentalität – die Fröhlichkeit, Offenheit, Zielstrebigkeit und Akzeptanz. Und die Trends. Egal, ob Mailand die Modehauptstadt ist oder Paris das Patisserie-Paradies und egal, ob wir die Homöopathie erfunden haben – am Ende lässt die (westliche) Welt sich von amerikanischen Trends leiten. Weil sie mehr Spaß machen und ansteckend sind, dabei aber unprätentiös bleiben.
Vielleicht fällt es den Deutschen deshalb vergleichsweise leicht, sich in Amerika zu integrieren, weil sie – beeinflusst von unserer besonderen Nachkriegsgeschichte – viele Ami-Trends ohnehin schon kennen und lieben. Haben wir nicht alle mal bei McDonald’s Geburtstag gefeiert, die Oscars geglotzt, uns mit MTV-Videos im Hintergrund für eine Party fertig gemacht, fasziniert die Skandale von O. J. Simpson bis Bill Clinton verfolgt und im kühlen Kinosaal Popcorn zu Blockbustern in uns reingestopft?
Aber die US-Kultur ist nicht nur Fast Food, Fast Fashion und Reality-TV. Ernste Themen wie Intersektionalität beispielsweise beeinflussen sowohl die Forschungsliteratur als auch gesellschaftliche Debatten; Diskurse zu Queerness oder People of Color werden vornehmlich in den Vereinigten Staaten geführt und von Europa übernommen. Diese Diskussionen treiben unsere kulturelle Entwicklung voran, auch wenn dabei schlechtes Bier verkippt wird.
Politkritik und -satire sind vielleicht nirgends so progressiv wie hierzulande und florieren unter anderem auf der ursprünglich chinesischen Plattform Tiktok, welche man längst nur noch mit den USA assoziiert. Mein Motto ist also: Wenn man sich dem American Lifestyle schon nicht entziehen kann, so sollte man ihn embracen. Und nun muss ich los, liebe Leser*innen, ich habe sehr viele rot-weiß-blaue Klamotten zu waschen!
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