»House of Bellevue«: Mehr als dufte

»House of Bellevue« macht Berlins queer-migrantische Ballroom-Tanzszene erlebbar

  • Jan Freitag
  • Lesedauer: 5 Min.
Emm (Ricco-Jarret Boateng, M.) traut sich, als Newbie zu performen.
Emm (Ricco-Jarret Boateng, M.) traut sich, als Newbie zu performen.

Voguing, progressive Wirtschaftswunderkinder West erinnern sich womöglich dunkel, war ein expressiver Tanz der 70er Jahre. Damals trat New Yorks homo- und transsexuelle Community aus ihrer gesellschaftlichen Nische ins Rampenlicht tagheller Diskotheken und verschwand ebenso wenig von dort wie Drogenkonsum, Diversität oder elektronische Beats. Drei, vier Befreiungsbewegungen später könnte man also meinen, weil die Emanzipation seither auch hierzulande schier unaufhörlich vorangeschritten ist, wäre Voguing kaum noch der Rede, geschweige denn eine Fernsehserie wert. Ein schöner Traum. Und ein trügerischer.

Das Rampenlicht der 70er leuchtet nämlich noch immer eher jenseits des heteronormativen Mainstreams. 2025 gönnt sich zwar jeder Vorabendkrimi ein paar schwule Randfiguren und mitunter gar Hauptkommissare. Halbwegs authentische Subkulturen aber schaffen es normalerweise nur als Dekorationen oder Opfer und Täter ins Drehbuch. »Ballrooms« genannte Partys, auf denen marginalisierte, meist migrationshintergründige Gruppen wie vor 50 Jahren im Big Apple queere Ausdruckstänze zelebrieren, gibt es daher höchstens mal im Spartenprogramm von Arte.

Wie immer ist das ZDF viel zu feige, um ein solches Format auch mal in der Hauptsendezeit zu bringen.

Mit der ZDF-Serie »House of Bellevue« arbeiten sie sich jetzt allerdings ins Unterhaltungsprogramm des ZDF vor. Zunächst zwar nur in der Mediathek zuzüglich nächtlicher Neo-Ausstrahlung drei Tage drauf. Aber immerhin – es ist Teil des öffentlich-rechtlichen Angebots an alle. Rein inhaltlich zieht der Schwarze Emm (Ricco-Jarret Boateng) darin vom ereignisarmen Lausitzer Provinznest Spremberg ins pulsierende Berlin, um Vogue-Tänzer zu werden. Sein erster Versuch auf dem Laufsteg endet ähnlich enttäuschend wie der Einzug in ein überteuertes, abweisendes, dunkles Plattenbau-Zimmer. Doch weil er bald darauf Gleichgesinnte trifft, geht es für ihn danach erst mal bergauf.

Die einflussreiche Ballroom-Organisatorin Lia (Nora Henes) fördert den bisexuellen Frischling in ihrer eigenen Tanzschule. Auch Mother Calista (Florence Kasumba), als offiziell amtierende Königin aller deutschen Vogue-Events geradezu anbetungswürdig, erkennt Emms Potenzial. Und der angehende Modedesigner Djamal (Abed Haddad) gewährt ihm Asyl in seiner bezahlbaren, einladenden, lichtdurchfluteten WG plus tiefe Freundschaft auf Augenhöhe. So tanzt sich der 19-Jährige rasch aufwärts in der Hierarchie dieser schillernd-schönen Party-Blase. Und das ist für sich genommen schon sehr amüsant.

Der Writers Room von Kai S. Pieck zeichnet den Berliner Ballroom schließlich als bodypositive Version von Heidi Klums Supermodel-Zuchtstation bei ProSieben, spart trotz aller Diversität aber nicht an deren Eifersucht, Drama und Zickenkrieg. Weil selbst Tanzfilme von »Flashdance« bis »Dirty Dancing« nicht ohne Begleithandlung auskommen, war der Hauptautor obendrein gut beraten, seinen Ko-Regisseuren Gabriel B. Arrahnio und Toby Chlosta mehr als dufte Musik mit an das Set zu geben. In »House of Bellevue« geht es daher mindestens nebenbei auch noch um Spielarten intersektionaler, also mehrfacher Diskriminierung, denen die Charaktere hier ausgesetzt sind.

Zumal einer von Piecks Autoren Lamine Leroy Gibba ist, der mit »Schwarze Früchte« Ende 2024 mal mindestens 99 Thesen entwaffnend ehrlichen Empowerments ans staubige ARD-Kirchenportal genagelt hatte. Auch deshalb verkneift sich die Serie jeden Philorassismus – jene wohlmeinende, aber leicht ölige Schonhaltung, mit der besagte Vorabendkrimis gelegentlich Vielfalt simulieren, statt abzubilden. Gibbas queere Zuwandererkinder dagegen dürfen abermals unangenehm auffallen. Die schwarze Lea zum Beispiel ist von ähnlichem Ehrgeiz zerfressen wie ihr afrikanischer Vater, der sie gern in den Fußstapfen seiner eigenen Architektur-Karriere gesehen hätte.

Auch Emm sieht in Leas »House of Bellevue« eher Sprungbrett als Safespace, weshalb er selbst Freunde oder Verwandte ständig vor den Kopf stößt. Und auf die Idee, dass sich der irakische Ballroom-Superstar Mo (Kawian Paigal) als homosexuell ausgibt, um Asyl zu kriegen und überdies kriminalisierte Rauschdrogen an seine Muckibuden-Kumpels vertickt, würde vermutlich kein Außenstehender kommen. Damit zeigt Producer David Ekow Herman, wie nahe seine Crew aller Gewerke dem Thema kommen wollte – und konnte. Selbst als Ballroom-Promoter aktiv, ging es ihm nach eigener Aussage schließlich um einen Raum für »respektvollen und offenen Austausch«, in dem »Individualität gefeiert und kollektive Kreativität gestärkt« werde.

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Ob es ein »tiefes Verständnis für Schwarze und Latinx-queere Kultur, Körperbewusstsein und Selbstinszenierung« erzeugt, »das sich aufs Publikum überträgt«, bleibt allerdings abzuwarten. Weil das ZDF einerseits wie immer viel zu feige ist, um ein solches Format endlich auch mal in der linearen Hauptsendezeit auszustrahlen, dürfte »House of Bellevue« ja vor allem für Gläubige predigen. Weil es (vermutlich mangels Budget) andererseits oft leicht schäbig ausgestattet wurde und dabei (wohl eher aus Bevormundungs- als Kostengründen) öfter das Drehbuchpapier raschelt, könnte es allerdings selbst in der eigenen Gemeinde auf Kritik stoßen.

Schließlich ist die Serie, der es abseits allen Entertainments auch um Beseitigung kulturkreisüblicher Klischees geht, manchmal ihrerseits stereotyp. Dass Emms gierige Vermieter im Märkischen Viertel zwei queerphobe Knalltüten wie aus dem AfD-Katalog sind, hätte sich Kai S. Piecks Team jedenfalls ebenso verkneifen dürfen, wie das wiederkehrende Starren auf Fotos oder Smartphones, um Emotionen zweidimensional zu machen. All das sind aber allenfalls handwerkliche Mängel.

Dazwischen und außerhalb verbirgt sich hingegen ein ersichtlich empathisches Bemühen um Ausgewogenheit mit Unterhaltungsanspruch, vor allem jedoch Haltung. Oder wer hat sich außerhalb der entsprechenden Community schon mal gefragt, wofür eigentlich der letzte Buchstabe im sprechenden Diversitätskürzel LGBTQIA+ steht? Darüber gibt die scheinbar einsame DJ-Ikone TJ (Ilonka Petruschka) angenehm unaufgeregt, vor allem aber ohne erhobenen Zeigefinger, Auskunft.

Damit sorgt die Serie des jungen Berliner Produktionsunternehmens Don’t Panic Films im Kreis eines absolut typgerecht zusammengestellten Ensembles (Casting: Liza Stutzky und Jan Nwattu) für etwas, das selten ist im deutschen Regelprogramm: Diversität für alle Interessierten kurzweilig sichtbar zu machen. Und mal ehrlich: Eine Serie, die Alice Weidel nach Lage der Dinge hassen dürfte, kann nicht ganz schlecht sein.

»House of Bellevue«, in der ZDF-Mediathek und ab Dienstag, 2.12., 23.10 Uhr, auf ZDFneo.

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