Planet Tschernobyl

Als Pelicanman singen und spielen Petra Haden und Mike Watt über Tschernobyl

  • Egon Günther
  • Lesedauer: 3 Min.
Petra Haden singt gegen die katastrophische Menschheit.
Petra Haden singt gegen die katastrophische Menschheit.

Der Planet Tschernobyl hat keine Grenzen. Ihn prägen schon relativ früh, bereits zu Beginn des Atomzeitalters, radioaktiv verstrahlte Orte wie der große Nuklearkomplex von Hanford am Columbia River in den USA oder der absolut tödliche Geistersee Karatschai im südlichen Ural. Hiroshima, Nagasaki, Fukushima, Tschernobyl, Paducah, Harrisburg, die Orte der atomaren Katastrophen, sie alle bilden zusammen ein weltumspannendes unsichtbares Netz.

Erst nachdem er das Buch »Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft« von Swetlana Alexijewitsch gelesen hatte, literarisierte zeitgenössische Monologe von Betroffenen über die just an seinem 51. Geburtstag in der damals noch sowjetischen Ukraine geschehene Reaktorkernschmelze, fasste der nordamerikanische Dichter und »Hobohemian« Charles Plymell seine nachträglichen Eindrücke und die solide Erschütterung in Worte: »Radioactive waves upon California shores, on our watch, in our blood. Oil spills, forever in our waters. Oh, brothers and sisters in catastrophic universe, catastrophic man. Oh, brothers and sisters, catastrophic man.«

Plattenbau

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Der 1935 auf einer Farm in Kansas geborene Plymell ist hierzulande durch sein in den 80er Jahren im Europa-Verlag auf Deutsch erschienenes Beat-Kaleidoskop »Moccasins« bekannt und war als Drucker der ersten Nummer des legendären »Zap-Comix« eine weltweit gefeierte Gestalt der nordamerikanischen Gegenkultur.

Die Rohfassung seiner unprätentiösen Tschernobyl-Klage gab Plymell dem amerikanischen Bassisten und Songwriter Mike Watt zu lesen, Gründer der einflussreichen US-Punkband Minutemen. Es waren traurige, düstere und schockierende Strophen über den stillen Tod und die umfassende Zerstörung, das Sterben von Tieren und Menschen, über durch Gier geweckte Dämonen, die verseuchte in Erde begrabene Erde, Klagen über die abgeflachten Berge von Kentucky, von denen herab chemische Bäche fließen, und über die im Tagebau verschwundenen Hügel von Dakota und Kanada.

Mike Watt sah in diesen gedrängten Notaten ein Libretto, ein aus kleinen Stücken bestehendes großes Stück, in summa eine Oper, zu der er seinen Bass beisteuerte. Watt schickte seine Bearbeitung zusammen mit Charles Worten an die Sängerin, Violinistin und Improvisationskünstlerin Petra Haden. Dass die Tochter des Kontrabassisten Charlie Haden mit ihrem musikalischen Gehör und ihrer Stimme wahre Wunder vollbringen kann, hat sie ehedem mit der Neueinspielung des Who-Albums »The Who Sellout« a cappella bewiesen, selbstverständlich auch in ihrer Arbeit mit ihren Drillingsschwestern, den Haden Triplets.

Petra Haden ließ sich auf Watts Ansinnen ein, verbrachte viel Zeit mit dem Text und sang zunächst alle Instrumentalparts ein, ehe sie diese dann mit Geige und Mandoline aufnahm, wobei sie aber zum Glück viel von ihrer Stimme im Mix belassen hat. Einer der 15 Songs besteht sogar nur aus ihrer Stimme.

Nun ist aus dieser besonderen Zusammenarbeit die schaurig schöne Platte »Planet Chernobyl« entstanden, die das Duo Haden/Watt unter dem Projektnamen Pelicanman veröffentlicht hat. Das von Tanya Haden geschaffene Plattencover zeigt das nach der Eröffnung zeitgleich mit der Reaktorhavarie stillgelegte Riesenrad im Vergnügungspark von Prypjat, umrahmt von einer Ansammlung anderer Sinnbilder und Wahrzeichen der von Charles Plymell beschworenen anscheinend unumkehrbaren und – Stichworte Saporischschja oder drohender Uranabbau im Grand Canyon – wohl andauernden Katastrophe.

Pelicanman: »Planet Chernobyl« (Org Music), auch auf Bandcamp.

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