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Martin Walser weiß alles über Entenfetten

Mit Martin Walser und zwei Frauen im Speisewagen des ICE – eine Erinnerung

  • Christian Y. Schmidt
  • Lesedauer: 8 Min.

Nachdem inzwischen alle ihre Martin-Walser-Nachrufe verballert haben, komme ich hier jetzt auch noch mal um die Ecke. Allerdings ist der Text überhaupt kein Nachruf, sondern die Schilderung einer Begegnung mit Walser und zwei Frauen in seiner Begleitung im Speisewagen des ICE von Frankfurt/Main nach Berlin. Sie fand vor langer Zeit statt – einen guten Monat nach dem 11. September 2001. Genauso wie ich kam Walser von der Buchmesse in Frankfurt. Natürlich gab ich mich nicht zu erkennen, sagte auch sonst kein Wort, sondern spitzte nur meine Ohren und versuchte mir die gewichtigen Dialoge einzuprägen.

Der Amerikaner

Genau auf dem Platz, auf den sich später der Schriftsteller setzen wird, sitzt zuerst der Amerikaner. Er hat sich den bestimmten Artikel redlich verdient, denn er sieht genau so aus wie jemand, mit dem man in einer deutschen Fernsehserie die Rolle des Amerikaners besetzen würde. Er ist dick und trinkt Bier. »Where is the restroom?«, fragt er sodann den Kellner. Der versteht nicht. »Der Herr sucht die Toilette«, sage ich, denn ich sitze am Fensterplatz desselben Tisches, dem Amerikaner schräg gegenüber, und helfe gerne. Gleichzeitig deutet der Amerikaner erklärend auf seinen Hosenschlitz. »Ah«, schreit der Kellner, der einen ostdeutschen Akzent hat, durch den ganzen ICE-Bordrestaurantwaggon, »Toilette. Ich dachte immer, das heißt Tualett auf Englisch!« Gestikulierend weist er dem Mann den Weg. Der Amerikaner steht umständlich auf und geht, nicht ohne ein paar Silbermünzen auf dem Tisch zu hinterlassen.

Der Schriftsteller

Zehn Minuten später steht der Schriftsteller an meinem Tisch. Der Schriftsteller ist Martin Walser, er sieht also genauso aus wie jemand, mit dem man in einer deutschen Fernsehserie die Rolle des Schriftstellers besetzen würde. Über sein Auftauchen bin ich nicht sonderlich überrascht. Ich hatte Walser schon in Frankfurt auf dem Bahnsteig stehen sehen und dumpf geahnt, dass er heute noch an meinem Speiesewagentisch stehen und fragen würde: »Ist hier frei?« Die Frage kannte ich also schon, fehlt nur noch meine Antwort: »Ich weiß nicht genau. Gerade ist jemand gegangen. Aber wahrscheinlich kommt der nicht wieder.« Was rede ich da? Hmm. Vielleicht will ich, dass Walser sich setzt? Der Schriftsteller ist nicht allein, sondern in Begleitung von zwei Frauen. Das könnte interessant werden.

Zwei Frauen

Die eine, ungefähr Mitte 30, hat dunkle Haare und trägt dazu passend künstlerschwarze Kleidung. Sie setzt sich neben mich. Bald weiß ich, dass sie Martina heißt. Lustig: Martina und Martin Walser. Die andere ist um die Fünfzig, irgendwie blond bis silbergrau, und hat für die Dauer dieser Fahrt keinen Namen. Sie wird mir die nächsten anderthalb Stunden gegenübersitzen. Walser trägt – wie immer – eine wallend graue Dichtermähne, buschige Augenbrauen und – wie manchmal – eine flotte beige Wildlederjacke. Er setzt sich zielsicher auf den Platz des Amerikaners.

Das will der Kellner, der vielleicht immer noch an seinen Restroom-Fauxpas denkt (oder an den 11. September, was weiß denn ich), nicht zulassen: »Und wenn der Herr gleich wiederkommt?« – »Warten wir’s ab«, sagt Walser. »Und das hier«, er zeigt auf das Geld, »können sie gleich mitnehmen«. »Ich werde doch kein fremdes Geld nehmen«, sagt der ehrlichste, vielleicht aber auch schlichteste ostdeutsche Kellner der Welt. Die Münzen müssen, darauf besteht er, liegen bleiben.

Eine Lesung

Walser macht es sich bequem, schnappt sich die Speisekarte und beginnt sofort mit einer kleinen Dichterlesung. Das heißt, er liest seinen beiden Damen die Speisekarte vor. Die hören aufmerksam zu. » Räucherlachs mit Rührei. Gebackene Kartoffel. Zartes Putensteak«, trägt Walser mit badenselndem Akzent (oder was auch immer) vor. »Asiatische Reispfanne. Krautwickel. Also ...«, der Schriftsteller macht eine Kunstpause, »für mich fängt das hier erst bei der Penne mit Tomatensauce an.« Aha, ein Gourmet, denkt die etwas dümmere, weil reflexartig funktionierende ironische Abteilung in meinem Kopf. Doch dann bestellen alle drei die »Pfälzer Bratwürstchen« von »Bioland« sowie Bier vom Fass. Und es denkt in mir: »Bier, um 13 Uhr. Respekt.« Der Kellner freut sich über etwas anderes: »Die Bioländer also. Sehr gut.« Kaum ist er gegangen, amüsiert sich der Schriftsteller und sein weiblicher Anhang. »Bioländer«, sagt er. Hihihi.

Mit der Heiterkeit ist es vorbei, als der Kellner mit drei Flaschen Radeberger wiederkommt. Walser protestiert. Fassbier hätte er bestellt. »Das ist aus«, sagt der Kellner. »Radeberger aber ist auch sehr gut«, schlichtet Martina. Missmutig fügt sich Walser, ergänzt dann aber schnell: »Wenn Helga dabei wäre, dann hätte der Mann aber was erlebt.« Wer ist Helga? Walsers Frau, der Kellnerschreck vom Bodensee? Ich weiß es nicht. Nur, dass sie an diesem Tisch keinen Platz mehr gefunden hätte, das ist sicher.

Frauen recht geben

Die Bioländer (hihihi) aber schmecken. »Besser als die Wiener auf der Buchmesse«, sagt Walser, denn da kommt er ja gerade her (genauso wie ich). Die Damen, die da auch waren, stimmen zu. Dafür sei aber die Luft im 1.-Klasse-Wagen viel schlechter als in den neuen Frankfurter Messehallen, findet die dunkelhaarige Martina. Sie hat, das kommt jetzt peu à peu heraus, erst Kopfschmerzen bekommen, dann beim Schaffner in Luftangelegenheiten protestiert und schließlich zum Aufbruch in den Speisewagen gedrängt. Walsers silbergraue Begleitung ist sich, was die Luftqualität angeht, nicht so sicher. Auch der Schriftsteller deutet an, Martina habe sich da vielleicht was eingebildet. Der nächste Streit liegt in der Luft: um – wie großartig – Luft. Und Walser tut alles, um ihn anzuheizen. »Immer recht geben«, sagt er lächelnd zu der Silbergrauen. »Frauen immer recht geben. Das habe ich in meinem Leben so gelernt.« Und wie man Frauen auf die Palme bringt, anscheinend auch.

Entenfetten

Aber Martina denkt überhaupt nicht daran, groß zu antworten. Sie kommt aufs Wetter zu sprechen. Genauer: Sie beginnt das ganze, bisher verstrichene Wetterjahr zu referieren, Monat für Monat. Es dauert eine Weile, bis ich wieder zuhöre. Da ist sie schon beim Juni. Der sei in Ordnung, der August aber dann zu heiß und der September schließlich zu kalt und feucht gewesen. »Ich kenne jemanden«, sagt auf einmal die Silbergraue, »der lebt auf einem Bauernhof und betreibt Wettervorhersage, indem er seine Tiere beobachtet. Dabei hat er festgestellt, dass sich das Wetter grundsätzlich alle 40 Tage ändert. 40 Tage, ein biblischer Zyklus. In diesem August fiel ihm auf, dass seine Enten plötzlich damit begannen, sich einzufetten.« Und tatsächlich sei es dann ja auch sehr kalt geworden und habe in einem durch geregnet, wenn auch nicht exakt 40, sondern eher 35 Tage. Aber die 40 Tage, das ist ja auch nur ein Näherungswert … »Die Enten hätten sich auch so gefettet«, sagt Walser trotzig. Damit ist das Thema vom Speisewagentisch.

Eine Schande sei ja auch, bemerkt der Schriftsteller nach einer Pause, dass die Bahn die Speisewagen abzuschaffen gedenke. »Ja«, antwortet die Silbergraue, »schon heute gibt es in Interregios keine Flasche Wasser mehr zu kaufen.« »Falsch«, sagt Walser, »in manchen Interregios gibt es sie doch zu kaufen.« Zum Beweis nennt er einen Interregio, der irgendwo im deutschen Südwesten verkehrt, und in dem man sehr wohl ... Toll. Walser weiß wirklich alles.

Gedankenfreiheit

Der Alleswisser schaut nun ganz kurz aus dem Fenster. Ein Stück Hessen fliegt vorbei. Deutschland, denke ich, denkt jetzt der Schriftsteller. Aber auch ich kann in seiner Gegenwart nicht recht haben: Walser denkt nämlich nicht an Deutschland, sondern schon wieder mal an sich. Und spricht darüber zu den Frauen: »Ich bereite gerade mit einem Theaterregisseur eine kleine szenische Lesung vor. Fünfzehn bis zwanzig Minuten. Hauptsächlich Schiller. Dafür habe ich die ganzen rechtsradikalen Stellen aus ›Kabale und Liebe‹, ›Don Carlos‹ usw. rausgesucht.« Das finden die beiden Damen nun wirklich hochinteressant. Welche Stellen er denn meine? »Zum Beispiel: ›Sire, gewähren Sie Gedankenfreiheit!‹«, antwortet Walser quietschvergnügt. Ich sehe ihm an, wie er jetzt glaubt: Da habe aber jetzt einen hochironischen, verdammt provokanten Coup gelandet. Und diesmal habe ich recht.

Die Bioländer sind verspeist, es geht ans Zahlen. Die Münzen des Amerikaners liegen noch immer auf dem Tisch. Walser betrachtet sie noch einmal und brasselt versonnen: »Geldmystik!« Dann steht er auf, verabschiedet sich von mir und geht, gefolgt von seinen Damen. Bewundernd sehe ich dem großen alten sabbernden Sack der deutschen Literatur nach – würde ich gerne schreiben. Aber Walser hat gar nicht gesabbert, und ich habe ihm erst recht nicht nachgesehen.

Der Kellner kommt und räumt den Tisch auf. »Das Geld, sage ich, das können Sie nun aber wirklich einstecken.« – »Gut, sagt der Kellner, aber nur, wenn Sie bezeugen, dass der Herr von vorhin wirklich gegangen ist. Aber was ich Sie noch fragen wollte: Wie hieß noch mal Toilette auf Englisch?« – »Restroom!« – »Aha. Das kommt wahrscheinlich von ›Reste‹. Ist ja logisch. Die wird man da ja los.« – »Nein. Das kommt von ›to rest‹. Ausruhen.« – »Ach so. Darum: Restaurant. Weil man sich da auch ausruht.« Nein, will ich sagen. Jedenfalls nicht in diesem Bordrestaurant. Ich halte dann aber doch die Klappe.

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