Arbeitskampf in der Hängematte

Falls der Sommer in Deutschland wieder heiß wird: Siesta als agrarromantisches Idyll oder Ausweg aus der Müdigkeitsgesellschaft?

  • Georg Leisten
  • Lesedauer: 5 Min.

Vom Süden lernen heißt leben lernen. Kulinarisch bestimmt diese Regel schon seit Jahrzehnten den deutschen Alltag. Pizza und Pasta haben die Salzkartoffel abgehängt, rassiger Tempranillo ersetzt das blass gewordene Feierabendbier und selbst ein bodenständiger Gurkensalat wagt sich nicht mehr ohne Olivenöl-Dressing auf teutonische Tische. Neuerdings aber hat eine ganz andere Errungenschaft der mediterranen Welt zum Sprung über die Alpen angesetzt: die Siesta. Johannes Nießen vom Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes (BVÖGD) sprach sich gegenüber verschiedenen Medien für eine großzügig ausgedehnte Mittagspause nach südeuropäischem Vorbild aus. Damit reagierte der Amtsärzte-Chef auf die vielfältigen Gesundheitsgefahren, die insbesondere Arbeitnehmenden durch die immer heißeren Sommer drohen.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach sowie Gewerkschaften unterstützten den Vorschlag. Arbeitgebenden hingegen jagt die Vorstellung einer Langzeitmittagspause offenbar kalte Schauer über den Rücken. Marie-Christine Ostermann vom Verband der Familienunternehmer jedenfalls widersprach in der »Rheinischen Post« dem Ansinnen: »Die Notwendigkeit einer flächendeckenden, womöglich gesetzlich festgelegten Siesta im Sommer sehe ich nicht.«

Hätte jemand etwas anderes erwartet? Hierzulande war der Müßiggang nach dem Mittagessen stets das Privileg von Rentnern oder Privatiers. Der breiten Masse der lohnabhängig Beschäftigten will man diesen Luxus nicht gewähren. Er schadet angeblich dem Bruttosozialprodukt. Ein Vorbehalt, der auch im Stereotyp vom faulen Südeuropa wurzelt. Als Griechenland vor einigen Jahren kurz vor der Pleite stand, war die Misere nach Meinung von Stammtischen und rechtsliberalen Ökonomen die Quittung für eine landestypische Neigung zur Trägheit. Länger in Mittagspause, früher in Rente!

Als Mutterland der Siesta gilt Spanien. Die kulturelle Praxis ist aber im gesamten Mittelmeergebiet, im Orient und (als kolonialer Export) in Süd- und Mittelamerika verbreitet. Sprachlich leitet sich der Begriff vom lateinischen »Sexta hora« ab, im altrömischen Zeitsystem die sechste Stunde nach Sonnenaufgang, was ungefähr unserer Tagesmitte entspricht. In der Regel beginnt die Siesta um 14 und endet um 17 Uhr. Ausreichend, um die feurigsten Stunden des Tages geschützt im Inneren oder im Schatten zu verbringen. Zudem ermöglicht es der XXL-Mittag vielen Arbeitenden, nach Hause zu gehen, sich das Essen selbst zuzubereiten und gegebenenfalls Kinder oder pflegebedürftige Angehörige zu versorgen, bevor die eigentliche Pause beginnt: das Schläfchen auf dem heimischen Sofa beziehungsweise in der Hängematte. Dafür gleicht ein späterer Feierabend die verlorene Arbeitszeit aus. Soweit die Theorie. In der Praxis genießt auch auf der Iberischen Halbinsel nur noch ein Fünftel der werktätigen Bevölkerung das Privileg einer traditionellen Siesta.

Ansonsten pausiert man zwischen Malaga und Barcelona kaum anders als in Frankfurt am Main: Zackzack in die Kantine oder ins nächste Schnellrestaurant, einen Kaffee hinterher kippen und nach ein, zwei privaten Telefonaten zurück an den Computer. Siesta – allein das Wort klingt in der durchgetakteten Workflow-Welt nach vorindustrieller Agrarromantik. Durchzusetzen wären zusätzliche Schlummerstunden, wenn überhaupt, nur um den Preis einer Sechstage-Woche. Ikonische Siesta-Szenen aus der Kunstgeschichte sind tatsächlich nichts anderes als Idyllen. Jean-François Millets »Mittagspause« ebenso wie das vor einem Heuhaufen träumende Bauernpaar des Vincent van Gogh »La Méridienne«. Mit der sozialen Realität hatten diese Bilder wahrscheinlich schon zur Zeit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert nicht mehr viel zu tun.

Genau deswegen kamen bereits in der Hochphase der Industrialisierung erste Forderungen nach mehr Müßiggang auf. Die bekannteste stammt von Paul Lafargue und trägt den Titel »Das Recht auf Faulheit«. 1880 erschien die Streitschrift gegen den Produktivitätszwang. Sich wohlfühlen sei wichtiger als Wachstum, lautete die Grundthese, was sowohl Konservative als auch den berühmten Schwiegervater des Autors, Karl Marx, zum Schäumen brachte. Als gelernter Arzt argumentiert Lafargue mit den Bedürfnissen des Körpers. So zitiert er, auch mit Blick auf die Siesta, das spanische Sprichwort »descansar es salud«, sich ausruhen ist gesund. Das »ungebändigte Tier« des spanischen Arbeiters dient in Lafargues Verteidigung des Nichtstuns als positives Gegenbild zum sich abrackernden Fabriksklaven.

Siesta heißt Lebenskunst von unten. Im 21. Jahrhundert hat der Philosoph Thierry Paquot mit seinem sympathischen Büchlein »Kunst des Mittagsschlafs« diese Argumentation wieder aufgenommen, um ein Loblied auf die mittägliche Auszeit zu singen: »Der Mittagsschlaf ist eine Inbesitznahme der eigenen Zeit, die sich dem Controlling entzieht. Die Siesta ist emanzipatorisch.« Auch andere sehen die Zeit für einen Arbeitskampf in der Hängematte längst gekommen. 2010 bescheinigte der damals noch in Karlsruhe lehrende Philosoph Byung-Chul Han dem Neoliberalismus, eine »Müdigkeitsgesellschaft« errichtet zu haben. Verdichtete Arbeitswelt und hyperaktive Konsumkultur, so der Deutsch-Koreaner, trieben die Menschen in eine eskalierende Erschöpfungsspirale. Unter den Konsequenzen (Depression, Burnout, Aufmerksamkeitsstörung) bricht mittlerweile auch die psychotherapeutische Versorgung zusammen. Wäre da nicht eine Mittagspause in entspannter Umgebung kühlender Balsam für die in der Leistungshölle brennenden Seelen?

Obendrein ist die aktuelle Siesta-Diskussion typisch für einen auf Sicht fahrenden Kapitalismus, der nicht weiter denkt als bis zur nächsten Aktionärsversammlung. Ähnlich wie beim Homeoffice-Zwist während der Pandemie offenbart sich einmal mehr, dass deutsche Chefetagen das Arbeitstier der Gattung Homo sapiens lieber an der kurzen Leine halten. Dabei würde sich der durch eine Siesta verursachte Verlust auf die Dauer durchaus rentieren. Und zwar weit über verhinderte Hitzschläge hinaus. Thierry Paquot etwa verweist auf eine Studie der Nasa. Bereits eine 40-minütige Auszeit vom Hamsterrad, errechneten die Forschenden, steigere die Konzentrationsfähigkeit der Angestellten um rund ein Drittel. Und sind wir ausgeruht nicht auch netter zu anderen? Wer in der Konferenz die hektische Kantinen-Currywurst hochrülpst, die er sich zwischen zwei Excel-Tabellen in den Schlund schieben musste, steckt mit seiner säuerlichen Gereiztheit leicht das übrige Team an.

Doch guter Schlaf braucht Zeit. Das unterscheidet die Siesta des Südens vom Powernapping im Großraumbüro. Ein auf wenige Minuten beschränktes Instant-Nickerchen am Schreibtisch ist, wie Fastfood oder der unsägliche Coffee to go, nur ein oberflächliches Wohlfühlversprechen, eine Junk-Siesta. Als ließe sich Schlaf zum Suppenwürfel komprimieren! Entschleunigung ist nicht auf die Schnelle zu haben. Zeit hat nur, wer sie sich nimmt. Arbeitnehmende aller Länder, legt euch hin!

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