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Über Trauma und Jogginganzüge

Der britische Autor D Hunter hat mit »Auf uns gestellt« ein bewegendes Buch über Armut geschrieben:Über das Überleben in der informellen Ökonomie, im Fokus von Staat und Sozialchauvinismus

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 6 Min.
Conny, ein Kind aus der Traveller Community, 2019 in der irischen Stadt Galway
Conny, ein Kind aus der Traveller Community, 2019 in der irischen Stadt Galway

Soziale Klasse ist kein abstraktes Konzept, keine reine Theorie und erst recht kein alter Hut. Klasse ist konkret erfahrbar, sie ist aktuell und sie kann wehtun: körperlich und seelisch; brutal, erbarmungslos und lebensgefährlich. Das wird bereits nach wenigen Seiten der Flugschrift »Auf uns gestellt« des britischen Autors D Hunter klar.

In seinem Buch, das aus autobiografischen Erzählungen besteht, beginnt Hunter mit der Geschichte seines Großvaters. Dieser gehörte zur fahrenden Volksgruppe der Irish Travellers und ließ sich mit seiner Familie in Nordengland nieder, wo auch Hunter geboren wurde. 1979 oder 1980 war das, so genau weiß er das nicht. Seine Mutter war damals 13 Jahre alt. Armut, Alkoholismus und Gewalt prägten die Familie. Der Großvater vergewaltigt seine eigene Tochter, Hunters Mutter, und dann auch Hunter selbst, als dieser noch ein Kleinkind war. Manchmal allein, manchmal mit anderen Männern, die zuschauten oder auch mitmachten. Immer und immer wieder, über Jahre.

Kein Entkommen aus dem Teufelskreis

Bereits mit diesem Einstieg wird klar, dass »Auf uns gestellt« keine leichte Kost ist, sondern eine soziale Realität ganz unvermittelt in ihrer Grausamkeit darstellt. Eine Grausamkeit, die nicht daraus entsteht, dass Menschen »an sich« gute oder schlechte Wesen wären, sondern weil verschiedene soziale Milieus – Klassen – ihre Handlungen und Haltungen beeinflussen. Das soziale Sein, das das Bewusstsein bestimmt, wie es bereits Karl Marx wusste.

D Hunter macht deutlich, was es heißt, als Mitglied der Armutsklasse zu leben, oder besser: zu überleben. Er beschreibt das Elend und die Brutalität dieses Umfelds offen und schonungslos, jedoch ohne jede Romantisierung. Er fördert keinen Kitsch, keine billigen Effekte, keinen Voyeurismus und kein Mitleid. Er will zeigen, welche Nöte, Zwänge – und eben unmenschliche Grausamkeiten – am unteren Ende der Gesellschaft herrschen. Hunter benennt dieses Milieu selbst als das untere Ende der working class (Arbeiterklasse), andere sprechen vom Prekariat, von den Marginalisierten oder im Anschluss an Marx, meist abfällig, vom Lumpenproletariat.

Wie auch immer diese Klasse benannt wird, der Teufelskreis ist häufig ähnlich: Armut, die zu Straftaten zwingt, Straftaten, die mit Gewalt einhergehen, Gewalt, die mit Suchtmitteln kompensiert wird, die wiederum Straftaten nach sich ziehen und die Armut verstärken. So auch bei Hunter. Nachdem er mit seiner Mutter und seinen drei Schwestern vor der Gewalt seines Großvaters geflohen war, kommt die Familie in Nottingham unter. Seine Mutter, selbst Prostituierte, verkauft auch den Körper ihres Sohns. Er schlägt sich in den kommenden Jahren als minderjähriger Sexarbeiter, Drogenkurier und Dieb durch. Hunter beschreibt den Alltag mit seiner Freundin, mit der er ein Junkie-Leben teilt, einen Pfleger, der ihn sexuell ausbeutet, sowie Ausflüge mit sich prügelnden Fußballfans ebenso wie Autodiebstähle, Einbrüche und das Herumirren auf der Suche nach einem Schlafplatz. Überall erleidet er dabei krasse Gewalt und führt sie auch selbst aus. Nur mit Alkohol- und Drogenmissbrauch hält er dieses Leben aus. Er landet im Gefängnis und mit 25 Jahren in der Psychiatrie.

Blinder Fleck der Klassismus-Debatte

Das Buch kommt zur rechten Zeit. In der letzten Zeit geistert mit »Klassismus« ein Begriff durch die Feuilletons und die Wissenschaft, der in Deutschland viel und heiß diskutiert wird. Die meisten großen Zeitungen veröffentlichten Artikel zum Thema, im Internet toben Debatten. Im Grund meint Klassismus eine Unterdrückungsform ähnlich wie Rassismus oder Sexismus. Während sich Sexismus auf das Geschlecht bezieht, bezieht sich Klassismus auf soziale Klasse. Das heißt, Menschen werden aufgrund ihrer sozialen Position diskriminiert, unterdrückt – und sind von Vorurteilen betroffen. Der an die »Klasse« angehängte »Ismus« zeigt, wie sehr die Idee Anschluss an die gegenwärtigen Diskriminierungsdiskurse sucht.

In Deutschland ist die Debatte um Klassismus eng verbunden mit dem ehemaligen »nd«-Redakteur und Autor Christian Baron. Er hat in seinem Roman »Ein Mann seiner Klasse« gezeigt, was es heißt, in der reichen Bundesrepublik in Armut aufzuwachsen. Der Soziologe Andreas Kemper und die Philosophin Heike Weinbach haben bereits 2009 ein Einführungswerk veröffentlicht. Doch im aktuellen Diskurs über Klassismus kommt das Milieu, aus dem D Hunter stammt, kaum vor.

D Hunter selbst, der mittlerweile als Autor und Pädagoge arbeitet, ist kein Intellektueller, der »von oben« über einen Sachverhalt berichtet, sondern jemand, der von »ganz unten« kommt und dort seine Erfahrungen gesammelt hat. Er beginnt erst mit Mitte zwanzig wirklich zu lesen. Durch seine Lektüre von Queer Theory und der Schriften des französischen Soziologen Pierre Bourdieus beginnt er, seine Lebensumstände als nicht selbstverschuldet, sondern als politisch bedingt zu begreifen. Hunter bezeichnet dieses Verfahren als »Autoethnografie«. Durch die Geschichten, die er erzählt und die zugleich seine eigene Geschichte ist, deckt er auch allgemeine gesellschaftliche Strukturen auf und beschreibt damit auch den britischen Gegenwartskapitalismus, in dem er lebt.

Schuld – nur anders

»Auf uns gestellt« ist ein Buch über Traumata, Klasse und Identität, über die Gewalt des Kapitalismus, über ökonomisch und sozial marginalisierte Menschen, die als überflüssig gelten – und es ist ein Buch über Schuld. Besonders hier liegt auch eine Stärke. Hunter beschuldigt nicht die Individuen, sondern konzentriert sich auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Dies wird besonders deutlich, wenn er »Mitgefühl« für seinen Großvater äußert, der ihn jahrelang missbraucht hat. Auch er, so Hunter, gehörte zu jener Klasse von Menschen, denen Zugehörigkeit zu einer »respektablen« Welt abgesprochen wird. »Die Armen« seien faul, gewalttätig und für ihre Position selbst verantwortlich, so das gängige Klischee. Hunter macht jedoch deutlich, dass Menschen, denen immer wieder ihre Menschlichkeit abgesprochen wird, selbst nicht mit Menschlichkeit antworten können.

Auch fordert Hunter für die Taten seines Großvaters und für all das Leid, das er selbst erlitten hat, keine Rache und erst recht keine Bestrafung durch staatliche Institutionen. Gefängnis oder Psychiatrie seien nur die Verlängerung derjenigen Gewalt, die den Armen ohnehin bereits alltäglich angetan werde, wie es Hunter im Anschluss an den französischen Philosophen Michel Foucault darstellt. Durch »Überwachen und Strafen«, so der Titel eines Buchs von Foucault über das Gefängnis, werde diese Gewalt nur weiter verstärkt. Selbst für seinen Großvater wünscht sich Hunter daher keine Haftstrafe. Anstelle dessen schlägt er vor, dass gegenseitige Fürsorge in den von Armut betroffenen Milieus an ihre Stelle tritt. Solidarität und Community-Arbeit sollen das Gefängnissystem ersetzen. Auch wenn dies bislang nur eine politische Forderung ist, ist es doch wohltuend, sie von einem direkt Betroffenen zu hören, der damit das Lied von Rache, Bestrafung und Sanktionierung »der Armen« anstimmt.

D Hunter: Auf uns gestellt. Armutsklasse,
Trauma und Solidarität. Nautilus 2022,
br., 256 S., 20 €.

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