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Rainer Wieczorek: Am Böllenfalltor

Die Bundesliga beginnt und Rainer Wieczorek feiert das »Spiel an der Außenlinie«, ausgerechnet im Stadion von Aufsteiger Darmstadt 98

  • Alfons Huckebrink
  • Lesedauer: 5 Min.

Fußballfans unterscheiden ihre Lieblinge nach Ästheten und Arbeitern, despektierlich zischen Schönspieler und Malochern. Ähnlich werde die Vereine unterschieden. Steht ein VfL Bochum eher für Kampfgeist und Drecksarbeit, verkörpert Real Madrid jene spielerische Eleganz, die in dem Attribut »das weiße Ballett« anerkennenden Ausdruck erlangt (der weißen Leibchen wegen, die aufgrund »körperloser« Spielweise auch nach Abpfiff noch strahlen sollen) und sich vornehmlich im vielzitierten Spiel ohne Ball manifestiert.

Zum Volkssport Nummer 1 deklariert, wird der Fußball zur allseits beliebten Projektionsfläche. Von ihm handeln ungezählte Bücher, darunter nicht wenige mit literarischem Anspruch. Welche sich häufig genau deshalb als langweilig erweisen. Eine rühmliche Ausnahme ist »Spiel an der Außenlinie« von Rainer Wieczorek, im Untertitel mit dem ungewöhnlichen Gattungsbegriff »Eine Abstraktion« versehen. Der Begriff »Spiel ohne Ball« ist die metaphorisch aufgeladene Weiterentwicklung des Stellungsspiels – das auch der an seiner Position klebende Libero alten Schlags beherrschen musste – um die Komponenten Antizipation, Rhythmus, Verschiebung. Im »Spiel an der Außenlinie« wird er wörtlich genommen – und damit zunächst konkretisiert: zum Spiel ohne Spielgerät.

Eine Luftnummer? Zumindest für den Ball, in weit zurückliegenden Kindertagen hoch emotional besetztes Objekt der Begierde. Was zurückbleibt ist reine Abstraktion, Vorstellung und damit gleichrangig geworden der Kunst. Eine Flanke ohne Ball. Die imaginierte Bewegung des Außenstürmers. »Ein Spiel?« – »Ein Tanz.«

Eingangs stößt der Ich-Erzähler, der gerade eine psychologische Arbeit mit dem Titel »Das ungespiegelte Kind« begonnen hat, beim werktäglichen Spaziergang auf einen Mann namens Redlitz. Das zur Probe eingeschaltete Flutlicht im nahegelegenen Stadion zieht sie an und an der Gegengerade in Höhe der Mittellinie erinnert sich Redlitz an seine ersten Bilder vom Fußballsport: Sigi Held und sein traumtänzerisches Spiel auf der Außenlinie, am 5. Mai 1966, Hampden Park Glasgow, Endspiel im Europapokal der Pokalsieger: Borussia Dortmund gegen FC Liverpool. Ein magischer Abend.

Kreide wirbelt im Stadion auf. »Licht, Staub und Geschwindigkeit« Sie denken an Turner? Die beiden Protagonisten auch. »Rain, Steam and Speed – the Great Western Railway«, ein berühmtes Bild von William Turner aus dem 19. Jahrhundert. Nein, mit Fußball hat das nichts zu tun, oder doch – mit der Dynamik, die in ihm schlummert.Und dann verabreden sich die beiden Spaziergänger zum täglichen Treff im leeren Stadion, gelegentlich argwöhnisch beäugt von Monteuren, die an der Haupttribüne zu tun haben. Die Rollen sind rasch verteilt: Redlitz als oraler Erzähler, der den Ich-Erzähler mit der Aufgabe betraut, die von ihm frei gesetzte Bilderflut zu kanalisieren, aufzubereiten für die schriftliche Form. Nicht ganz uneigennützig für diesen, profitiert dabei doch auch seine Abhandlung: »Das ungespiegelte Kind begann Gestalt anzunehmen.« Weit geht es zurück in die noch nicht kommerzialisierte Fußballgeschichte; Gegner der als »Hiesige« oder »Blau und Weiß« bezeichneten Fußballer sind unterklassige Vereine wie SSV Reutlingen oder VfL Osnabrück. Namen aus dem Fußballmuseum wie Werner Olk und Rudi Collet werden aufgerufen, an deren Biografie sich rasch festmachen lässt, in welchem Stadion dieses gedankliche Experiment Gestalt annimmt: Am Böllenfalltor, der Spielstätte des SV Darmstadt 98, der in der kommenden Saison wieder erstklassig ist.

Aber hier geht es nicht um das Auf und Ab des südhessischen Traditionsvereins, der nach sportlicher Depression erst seit einem Jahrzehnt wieder im Profifußball mitspielt, sondern um das Allgemeine des Fußballs. Denn bald schraubt sich Redlitz in die dünne Luft der Abstraktion, nimmt damit dem Spiel seine Aggressivität, seine Fixierung auf Tabellen und Ergebnisse. Beschwört die reine Schönheit von Situationen, Konstellationen, Bewegungsabläufen; eine Gruppe von Verteidigern etwa, die zur Abwehr aufsteigen, versteift zum klärenden Kopfball, der niemals ausgeführt wird. Ausgedient hat der sogenannte Flankengott und seine Albträume von den Blutgrätschen der Verteidiger. »Ich war gespannt darauf, wie Redlitz den Ball, den er von seinem Vater geschenkt bekommen hatte, nun aus dem Spiel nehmen wollte.«

Jeden Abend werden neue Bilder, neue Kombinationen im leeren Stadion imaginiert und auf ihren ästhetischen Gehalt hin bewertet. Rasch bewegen sich beide auf dem Gebiet der bildenden Kunst, ergötzen sich an parallelen Strukturen und Vergleichen zum Werk Hans Hartungs, Fritz Winters, Ernst Barlachs. Und immer wieder Turner. Zwischenzeitlich bringt Redlitz Rittberger mit zum Treff an der Außenlinie, eine »Art von Cousin« auf Besuch, wie er sagt und der beim Ich-Erzähler Eifersucht weckt. Ihm dämmert, »dass das Spiel ohne Ball im Hause Redlitz noch eine andere Deutung erfuhr.« Ein »Unbegabter« indessen, der den künstlerischen Höhenflug der beiden zu erden versucht, sich nicht scheuend, das Wort »Gelaber« einzuwerfen, und – wie der vielleicht zweifelnde Leser – entsprechend belehrt wird: »Das saß«. Fußball als Kunst also. Oft beschworen, hier ernst genommen. Spannung, Lebendigkeit, Spielfreude. Ein wenig erinnern die beiden Protagonisten an die Landstreicher Estragon und Wladimir aus Becketts »Warten auf Godot«» Worauf warten sie? Vielleicht auf den erlösenden Schlusspfiff? Der niemals ertönen kann bei diesem Spiel ohne Ball.

«Sie waren eben da; ihre Eigenheit, ihre Wünsche wurden aber eher als Gefahr wahrgenommen denn als Impuls, dem es den Weg zu ebnen galt.» Aus dem Trauma des ungespiegelten Kindes entwickelt Wieczorek in seiner Erzählung die ästhetische Konzeption einer Spielfreude, die an keinen Gegenstand mehr gebunden ist. Als solche impliziert sie «die Freude am Gestalten des Neuen.» Welche wiederum eine dezidiert politische Qualität aufweist: «Sie wollte nichts mehr abbilden, sich von niemandem mehr funktionalisieren lassen.» Immer anspielbereit. Aus seinem «Spiel an der Außenlinie» wirft er uns den Ball zu. Steigen wir hoch zum Kopfball.

Rainer Wieczorek: Spiel an der Außenlinie. Eine Abstraktion. Dittrich Verlag, 124 S., geb., 22 €

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