Klimakatastrophe: Wächtertiere aufgepasst!

Judith Schalansky checkt die Klimakatastrophe mit Kanarienvögeln

  • Thomas Bruhn
  • Lesedauer: 3 Min.

Nicht die dicken Wälzer sind es, in denen die gewichtigen Fragen der Zeit verhandelt werden ― die schmalen Bändchen haben es in sich. Das hat Vorteile: Man kann die Bücher mit sich herumtragen; kann sie bei jeder Gelegenheit zur Hand nehmen, um einen Gedanken aufzunehmen oder zu zitieren. Oft sind die Bücher Erkennungszeichen. Ich denke an Zeiten zurück, als aus der Tasche meines Parkas Gedichtbände von Braun, Jewtuschenko oder Brechts »Me-ti« hinaus in die Welt lugten. Wer dieselben Bücher bei sich trug, den grüßte man; bei dem konnte man eine Zigarette schnorren und wusste sich gleichgestimmt in Seele und Geist.

Ein solches Bändchen ist auch »Schwankende Kanarien«, ein langer Essay von Judith Schalansky, in dem die Autorin eine der gewichtigen Fragen der Zeit verhandelt: Es geht um die von der kapitalistischen Produktion geschaffene Umweltverschmutzung und den damit einhergehenden Klimawandel. Dieses Problem bedarf dringend einer Lösung, weil es die natürlichen Grundlagen des Lebens auf der Erde bedroht. Das Fatale an der Sache: Die Auswirkungen der Klimaänderung richten sich nicht nur gegen ihre Verursacher, gegen jene, die ihre 300 Prozent Profit einstecken, sondern auch gegen jene, die diesen Profit erwirtschaften ― gegen uns alle; sie machen vor keinem halt, sie nehmen keine Rücksicht auf Klasse und Stand und Verantwortlichkeit; für sie sind Grenzen nichtig.

Konservative und Liberale machen uns gern weis, es sei doch nicht so schlimm. So schlecht steht es um die Luft zum Atmen nicht. Und die Wirtschaft! Und unser aller Wohlstand! Wenn erst mal in jedem Haus Erdwärme für zipfelmützige Gemütlichkeit sorgt und jeder ein Elektroauto fährt, wird sich das Klima schon reparieren. Die Temperaturen werden dorthin sinken, wo sie herkommen, und es wird sein wie früher, als pünktlich am Heiligabend der Zug zwischen Berlin und Karl-Marx-Stadt bei Mittweida im Schnee steckenblieb.

Die Frage, die im Raum steht, lautet: Befinden wir uns an einem Punkt, an dem die Entwicklung in eine neue Richtung gelenkt werden kann? An einem Punkt, an dem das System kollabiert, eine Art ausstirbt, ein Gewässer umkippt? Oder sind wir längst am Point of no Return angekommen oder stehen kurz davor? An jenem Punkt, an dem egal ist, was wir tun, weil nichts mehr zu retten ist? Woran erkennen wir, wie es um die Dinge steht? An den Statistiken? An den Kurven der Wetterdienste? Beim morgendlichen Blick aufs Thermometer? Oder daran, ob die Kanarien noch singen?

Zunächst: Kanarien zeigten noch bis in die Achtzigerjahre den Bergleuten unter Tage an, wenn der Sauerstoffgehalt der Luft sank und es lebensgefährlich wurde – es sind Wächtertiere. Heutzutage, den steigenden Wasserspiegel in der Südsee vor Augen, müssen wir davon sprechen, dass selbst der Mensch des Menschen Wächtertier ist.

Schalansky hat keinen lauten Text geschrieben, sondern einen leisen, nachdenklichen und umso eindringlicheren. Wir müssen keine Angst haben vor dem Wort Essay, egal wie wir es übersetzen: Es bleibt ein Aufsatz, und wir müssen nicht vor dem Thema des Aufsatzes kuschen, Schalansky beherrscht die Kunst, ihre Gedanken wohlsortiert, bildhaft und fein versponnen zu Papier zu bringen.

Als ich vor ein paar Tagen in der Regionalbahn einen Platz suchte, sah ich im Vorbeigehen, daß eine Frau in dem Band las, den auch ich mir als Reiselektüre eingesteckt hatte. Es war eine Grafik in dem schön gestalteten Buch, die es mir verriet. Natürlich setzte ich mich in ihre Nähe, von wegen der Verbundenheit.

Judith Schalansky: Schwankende Kanarien, Verbrecher Verlag, 96 S., geb., 14 €.

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