Schmerzgriffe bei Berliner Polizei: Einfach nur wehtun

Auszüge aus einem Lehrbuch der Berliner Polizei zeigen, dass jahrelang rechtlich umstrittene Schmerzgriffe trainiert wurden

Dient dieser Griff mehr als nur dem Zufügen von Schmerzen? Die Lehrbücher der Berliner Polizei werfen Fragen auf.
Dient dieser Griff mehr als nur dem Zufügen von Schmerzen? Die Lehrbücher der Berliner Polizei werfen Fragen auf.

»Mit den Fingern wird in den Genitalbereich gegriffen. Mit der Faust, dem Handballen, der flachen Hand oder dem Knie wird auf den Genitalbereich geschlagen/gestoßen.« Diese Anweisung stammt aus einem Handbuch der Berliner Polizei, das von 2005 bis 2020 genutzt wurde. Daneben ist ein Foto abgebildet, das eine Polizistin mit der Hand im Schritt eines Mannes zeigt. Sie übt einen Schmerzgriff. Nachdem die Rechercheplattform »Frag den Staat« Teile des Lehrmaterials veröffentlicht hatte, bestätigte die Polizei deren Echtheit.

Das Lehrbuch wirft Fragen auf. Trainierte die Berliner Polizei jahrelang Techniken aus dem Kampfsport, die primär Schmerzen zufügen sollen – und die eigentlich nur im Ausnahmefall Anwendung finden dürfen? Ohne auf die strengen juristischen Bedingungen einzugehen? Denn Hinweise zum rechtlichen Rahmen finden sich in den Auszügen nicht.

Der Vorwurf an sich ist nicht neu: Aktivist*innen berichten regelmäßig von unverhältnismäßig schmerzhaften Einsätzen, wenn etwa Blockaden geräumt oder Veranstaltungen aufgelöst werden. Im April sorgte zudem ein Video für Aufsehen, das Polizeigewalt gegen einen Aktivisten der Letzten Generation vermuten lässt: Ein Polizeibeamter droht darin Lars Ritter, einem Mann Mitte 20, mit »Schmerzen beim Kauen und Schlucken«, wenn er nicht die Fahrbahn verlasse. Als Ritter sitzen bleibt, zieht der Polizist ihn am Kiefer in den Stand und verdreht ihm den Arm, sodass der junge Mann vor Schmerzen schreit.

Dass der Beamte hier womöglich zu brutal vorging, leugnete nicht einmal die Polizei und leitete ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt ein. Die veröffentlichten Lehrbücher legen jedoch nahe, dass Polizist*innen nicht nur das Maß an Gewalt eigenmächtig überschreiten, sondern dass ihre Ausbildung bereits auf unverhältnismäßige Gewaltanwendung ausgelegt ist.

Polizeipräsidentin Barbara Slowik widersprach im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses diesem Vorwurf: »In der Polizei werden keine Schmerzgriffe ausgebildet.« Bei der Auflösung von Blockaden kämen »Zug-, Druck- und Transporttechniken« zum Einsatz, die die Verletzungsgefahr reduzieren sollten. Wenn polizeiliche Maßnahmen Schmerzen zufügten, dann nur, weil sich die Betroffenen wehrten. Die Auszüge aus dem Buch zeigten hingegen Selbstverteidigungstechniken, so Slowik.

Vasili Franco, innenpolitischer Sprecher der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, hält diese Erklärung für Schönrederei. »Natürlich kann es sein, dass ein Polizist überwältigt wird und sich dann wehren muss. Aber solche Situationen lassen sich nicht mit gezielten Schlägen in den Genitalbereich trainieren.« Die von Slowik erwähnten Zug- und Drucktechniken hätten ihre Berechtigung. »Aber die Polizei muss immer nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit handeln und das mildeste Mittel wählen.«

Ob die Inhalte sich auch im aktuellen Lehrmaterial wiederfinden, muss sich zeigen. Francos Antrag auf Einsicht in die Ausbildungsbücher wurde seit der Sitzung des Innenausschusses am Montag noch nicht nachgegangen.

Muckefuck: morgens, ungefiltert, links

nd.Muckefuck ist unser Newsletter für Berlin am Morgen. Wir gehen wach durch die Stadt, sind vor Ort bei Entscheidungen zu Stadtpolitik - aber immer auch bei den Menschen, die diese betreffen. Muckefuck ist eine Kaffeelänge Berlin - ungefiltert und links. Jetzt anmelden und immer wissen, worum gestritten werden muss.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal