Neuwortfrech und zwirbelgierig

Ratio poetisch: Dem Dichter Peter Gosse zum 85.

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Witz in Bruderschaft zur Bitterkeit: Peter Gosse
Der Witz in Bruderschaft zur Bitterkeit: Peter Gosse

Gute Gedichte sind wie aufrichtige Menschen: Sie reichen vielleicht weit – und kommen doch zu kurz. Ohnmacht ist der treue Begleiter all jener Wesen, die nah der Wahrhaftigkeit wurzeln, nah der Selbsttreue, nah dem wachhaltenden Zweifel. Und: Gedichte haben nichts mit Natürlichkeit zu tun, sie verkörpern gesteigerte Künstlichkeit. Peter Gosse ist ein Meister solcher Künstlichkeit. Seine Sprache ist neuwortfrech und zwirbelgierig, sie treibt Widerhaken ins landläufige Wort. »Schwefel-Lohe«, »Durchwölbtheit«, »Schabegeschrill«.

Der Poet trat als Hochfrequenztechniker in die Dichtung ein, forsch setzte er »Antiherbstzeitloses« (1968) gegen »Herbstiges und Zeitloses und Blümeliges«. Lyrik, gewissermaßen als Flucht vor der Lyrik. Das Vokabular der Technik gründete bei ihm eine eigene kühle Romantik. Provokative Frische, ohne Furcht vor einer aufstörenden Hermetik. Volker Braun schrieb über den Diplomingenieur, der in Moskau studiert hatte, der dann in einem DDR-Großrechenzentrum arbeitete: »Russische Sinnlust verlötet mit sächsischem Welternst. Telegraphendrähte zwischen Traditionen.«

Nicht erst in späten Büchern, »Einstweilige Verfügung« (Dresdner Schriften) oder »An und für sich« (Berichte, Briefe, Bilder), erinnert Gosse an den Lehrer Georg Maurer. Der große Dichter in Leipzig, ein Bloch der Verse, der saß auf einer Bank im Rosental und schrieb, er säße im Weltall. Gosse sieht ihn als bleibend Maßstäblichen, auf den eines Tages zurückgegriffen werden wird, »sobald ein allgemeines Vorgreifen sich aufmacht«. Ein Vorgreifen? Das wäre zuallererst: Begreifen unserer Apathie, wäre Neu-Zeit für den großen Atem – es muss und wird (wieder!) utopisch gedichtet werden: »undeutlich, übertrieben, fahrig, großmundig, beglaubigt, unwissend, ahnungsvoll.«

Das ist sie: Gosses Lust am ungebärdigen Überspringen lustloser Zeiten; er nennt das Gegenwärtige eine »ellenbogelnde Libertinage«. Er weiß sehr wohl, dass Dichter einst Seher waren, denen die Götter die Zunge lösten – heute muss man sich durch Selbstinspiration in Stimmung bringen. Aber: Er bleibt doch dem Gedanken vom wohlgesinnten Miteinander treu. Herrlich herzlich, also schmerzhaft: Hoffnung besteht auch darin, nicht zu vergessen, was wehtut (»Ausfahrt aus Byzanz«, »Standwaage«, »Erwachsene Mitte«, »Aus gegebenem Anlass«).

Ein Gedicht heißt »Entfremdung«. Der trotzige Schluss: »Dasein, du Fehlgefüge, / Du gib mir, wenn schon Wahrheit nicht, so Lüge!« Die Poesie ist die unsterblichste aller Lügen, sie ist das einzig Wahre, das die Welt und uns zusammenhält – indem es, per Vers, die Welt mit uns verlässt, mit kräftigen Schwingen. Über einem verlässlich schwankenden Boden, der uns unsere entwurzelten Wurzeln herzeigt. Aber noch das Zerborstene kann ein Grund für Heimweh sein. In Wut gegen die Wendischen, in Würde inmitten der Weltnöte, mit Weisheit wider die Weismacher. Der Witz in Bruderschaft zur Bitterkeit.

Liebesgedichte von ihm heißen »Sündenphall«, »Aufreiß«, »Knäuel«. Die Liebe als Gleichnis: Nähe reißt auf, aber es ist das wahre Tor zur Fremdheit, denn einen anderen Menschen erkunden zu wollen (Anmaßung!) – es bleibt ein Eintritt in Untiefen, die alles nur dunkler machen. Leidenschaft? »Fiebrige Entfernungsübergröße«.

Peter Gosse, sein jüngster Band titelt »Abgesang« und erschien bei Quartus in Jena – das ist Weitschwung, ein sprachliches Tüfteltimbre, das heiter kühne Antigeschmeidige. Ratio poetisch, grenzbewusst. Und doch auch: »Ein Aufgehn irgend in Entgrenzung.« Heute wird der Dichter 85 Jahre alt.

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