Türkei: Staatsterror gegen Selbstverwaltung in Rojava

Christopher Wimmer zu den Angriffen der Türkei auf Nordsyrien

  • Christopher Wimmer
  • Lesedauer: 3 Min.

Wie sich die Bilder doch gleichen: Bereits 2015 lag die nordsyrische Stadt Kobanê unter schwerem Bombenbeschuss. Damals griff der Islamische Staat (IS) die kurdisch geprägte Stadt an und zerstörte sie fast vollständig. Am Ende entschied sich dort jedoch die Zukunft des IS, der gegen die kurdischen Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG und YPJ seine erste Niederlage einstecken musste. Die kurdischen Kämpfer*innen wurden international gefeiert.

Nun ziehen erneut schwarze Rauchwolken über das symbolträchtige Kobanê. Aktuell sind es jedoch nicht mehr islamistische Terroristen, die die Stadt angreifen, sondern Kampfjets des türkischen Staats. Seit einer Woche fliegt Ankara die schwersten Flug- und Drohnenangriffe auf Nordsyrien seit Langem.

Bei ihren Angriffen zerstört die Türkei massiv und gezielt zivile Infrastruktur, was nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen eingeordnet wird. Die Angriffe der vergangenen Tage haben unter anderem Öl- und Gasförderanlagen, Warenlager, Umspannwerke, Elektrizitätsverteilerstationen, Wasserpumpstationen, Tankstellen, Staudämme, Fabriken, aber auch Geflüchtetenlager und Dörfer getroffen. Der Türkei geht es bei ihrer Offensive offenbar darum, die komplette Lebensgrundlage der Bevölkerung in der Region zu zerstören, die ohnehin schon unter schlechten humanitären Bedingungen leben muss.

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Den Vorwand der türkischen Militärschläge lieferte ein Anschlag der Kurdischen Arbeiterpartei PKK vom 1. Oktober in der türkischen Hauptstadt Ankara. Daraufhin hatte der türkische Außenminister Hakan Fidan am 4. Oktober angekündigt, die kurdischen Gebiete in Nordsyrien – auch bekannt als Rojava – umfassend anzugreifen. Die ganze Region sei nun ein »legitimes Ziel«, sagte er. Ohne Beweise behauptete er weiter, die PKK-Kämpfer seien in Syrien ausgebildet worden und von dort aus illegal in die Türkei gelangt.

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Die türkische Luftwaffe ließ unmittelbar Taten folgen. Bei den Angriffen starben bislang mindestens acht Menschen. Der Sachschaden ist noch nicht genau zu beziffern, beläuft sich jedoch auf mehrere Millionen US-Dollar. Weite Teile Rojavas sind inzwischen komplett von der Strom-, Wasser- und Gasversorgung abgeschnitten. Not und Verzweiflung vor Ort sind groß.

Den Vorwand des Attentats hätte die türkische Regierung jedoch gar nicht benötigt, führt sie doch seit Jahren – weitgehend unbeachtet von der Weltöffentlichkeit – einen Krieg niedriger Intensität gegen Nord- und Ostsyrien. Bereits 2022 kam es in der Region zu insgesamt 130 türkischen Drohnenangriffen, bei denen 87 Menschen getötet und 151 Menschen verletzt wurden. Zudem hat Ankara seit 2016 bereits in drei Angriffskriegen große Teile Rojavas annektiert. Diese Invasionen wurden unter anderem vom Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestags als völkerrechtswidrig eingestuft.

Rojava steht nicht unter Kontrolle des syrischen Machthabers Baschar al-Assad, sondern ist selbstverwaltet. Dort haben sowohl Kurden und Araber als auch Christen und Jesiden zusammen ein System aufgebaut, das auf Basisdemokratie, Geschlechtergerechtigkeit und Ökologie beruht. Die türkische Regierung sieht in diesem Projekt jedoch lediglich einen Ableger der PKK. Die Selbstverwaltung stelle eine »terroristische Bedrohung« dar, bekräftigte der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan wiederholt.

Auf diese Bedrohung reagiert das Nato-Mitglied Türkei nun mit – man muss es so deutlich sagen – Staatsterror. Die Menschen in Nordsyrien und die kurdischen Milizen YPG und YPJ, die vor einigen Jahren noch weltweit als Bollwerk gegen den IS-Islamismus gefeiert wurden, sind die Leidtragenden. Die westlichen Regierungen lassen Erdoğan bei seinen Kriegsverbrechen weitgehend gewähren.

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