Wagenknecht schürt in Halle Ängste vor Wohlstandsverlust

In Halle las die Politikerin aus ihrem Buch »Die Selbstgerechten« und spielte einmal mehr auf der Klaviatur des Ressentiments

  • Benjamin Beutler, Halle
  • Lesedauer: 9 Min.
Geduldig warten Besucher nach Wagenknechts Auftritt am 19. Oktober in Halle auf ein Autogramm der Bestsellerautorin. Links im Bild sitzend mit Zopf: Martin Lejeune, ein zum Islam konvertierter Hamas-Fan, der seit Monaten für die Wagenknecht-Partei trommelt.
Geduldig warten Besucher nach Wagenknechts Auftritt am 19. Oktober in Halle auf ein Autogramm der Bestsellerautorin. Links im Bild sitzend mit Zopf: Martin Lejeune, ein zum Islam konvertierter Hamas-Fan, der seit Monaten für die Wagenknecht-Partei trommelt.

Auf dem Weg vom Bahnhof Halle zum Steintor-Varieté, wo Sahra Wagenknecht an diesem Donnerstagabend aus ihrem Buch »Die Selbstgerechten« vorlesen wird. Die einstige Bezirkshauptstadt an der Saale boomt. Studenten, sächselnde Biertrinker am vietnamesischen Spätkauf, Mütter mit und ohne Kopftücher, die ihre Kinder durch die Einkaufsstraße schieben, viele Kirchen, Brunnen, Denkmäler, Plattenbauten, Gründerzeitvillen. Gleich hinter einer Brücke geht es die Straße hoch zum alten Markt. Das Stadtzentrum ist voller Menschen aus aller Welt. Eine Verkäuferin lehnt an einem mit Farbe beschmierten Laden. Was ist passiert? »Thor Steinar, verstehste? Die sagen, wir sind rechtsextrem, aber die Klamotten wurden von Nazis missbraucht, wirklich, das ist nordische Symbolik, mehr nicht«, sagt sie und zeigt auf den Werbeaufsteller mit blond-kurzhaarigem Hühnen-Model. Und lacht. Sie kommt aus Berlin. »Heute Nacht haben sie mir sogar das Schloss kaputt gemacht, echt keine Ahnung, was die gegen uns haben«. Den anderen Laden, den sie in Spandau hat, der läuft nicht, »liegt ja im tiefsten Westen, da kommen die Ossis nicht hin.«

Ich frage mich zum Varieté-Theater durch. »Da musst Du zur Ossietzkystraße, und dann links. Ach Quatsch, rechts, ich verwechsel immer links und rechts!«, erklärt eine junge Frau, die gerade aus dem Haus kommt und im schwindenden Tageslicht mit ihrem Hund Gassi geht. Das Paulusviertel in Halle ähnelt dem Berliner Prenzlauer Berg der Jahrtausendwende: Baulücken und graue, bröckelnde Fassaden.

Vor vier Jahren im Oktober, am höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur, hat hier ein Judenhasser versucht, die Holztür zur Synagoge im Kiez zu sprengen. Der Ex-Bundeswehrsoldat will die feiernde Gemeinde auf der anderen Seite der Mauer ermorden. Doch die Tür hält stand. Wahllos erschießt der Mann daraufhin zwei Passanten.

Heute steht in der Straße, in der sich die Synagoge befindet, ein Streifenwagen. Eine mobile Polizeiwache überblickt das Geschehen, überall Kameras. Der Krieg in Israel und Palästina geht gerade in die dritte Woche, wieder entfacht von Judenhassern, wieder an Jom Kippur. Ein frischer Blumenstrauß liegt vor der Eichentür, die sich dunkel in die schützende Mauer schmiegt, kleine Steine auf der Gedenktafel. Man müsse »nicht Neonazi sein, um Antisemit zu sein«, verteidigte sich der Täter später, aber »der weiße Mann zählt nichts mehr«. Sein Anwalt hat eine Erklärung: »In seinem Weltbild ist es halt so, dass er andere verantwortlich macht für seine eigene Misere«.

Fünf Minuten Fußweg entfernt besprechen Sicherheitsleute die Lage im Variéte-Theater. Der Saal füllt sich mit Menschen. Es gibt eine Bar, Bier, viele Restkarten für 25 Euro an der Abendkasse. Der Buchverkaufsstand ist aufgebaut. Draussen fahren die Straßenbahnen vorbei. Eine kleine Gruppe von Menschen hält Ukraine-Flaggen hoch. Sie protestierten gegen den Auftritt der prominenten Politikerin und Autorin. Die »AfD kokettiert ganz offen mit Russlands Diktator«, sagen die Demonstranten. Genau wie die Akteure der extrem rechten Partei schiebe Wagenknecht dem Westen die Schuld am russischen Angriffskrieg in die Schuhe. Nicht nur, dass Wagenknecht den Ukraine-Krieg »für ihre öffentliche Selbstdarstellung missbraucht«, beklagen die Demonstrierenden. Die Bundestagsabgeordnete schade den Angegriffenen, die sich verteidigen. »Wir, die aus der Ukraine flüchten mussten, können dies nicht ohne Protest hinnehmen«, erklären die Kriegsflüchtlinge und ihre Unterstützer aus Halle. Eine Handvoll Anhänger von Sven Liebich, stadtbekannter Neonazi, der kürzlich wegen gefährlicher Körperverletzung verurteilt wurde, ist auch da: »Deutschland! Deutschland!« rufen sie.

Drinnen stimmt sich das Publikum auf die Lesung ein. Neben der Varieté-Bar unterhalten sich drei Besucher: »Der NSU, das war doch der Verfassungsschutz!«, sagte einer. Ein Moderator heizt die Stimmung an. »Was halten Sie von der Parteigründung von Sahra Wagenknecht?« Die Antwort bleibt knapp: »Gemischte Gefühle«. Viele werden das diesen Abend sagen. Der Moderator versuchts mit einem Ratespiel: »Die Mutter der Dummheit ist immer schwanger, wer wars? Also Göhring-Eckardt wars nicht!« Höhnisches Lachen. »Lisa Eckhart!«

Eigentlich ist der Spruch ein afghanisches Sprichwort. Die österreichische Kabarettistin Lisa Eckhart ist besonders bei Kritikern der vermeintlichen Political Correctness beliebt, weil die traue sich noch was, meinen sie. Sie hat den Spruch bei einem ihrer Auftritte aufgesagt. Wieder der Moderator: »Früher war nicht alles besser, wer hat’s gesagt?« Keiner antwortet. »Das war Steimle, ein guter Freund!« Uwe Steimle, Ex-Kommissar der TV-Serie »110«, darf gerichtsfest als »völkisch-antisemitischer Jammer-Ossi« bezeichnet werden. Aus seiner Freundschaft zu Antisemiten, AfD-Fremdenfeinden und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, »dem klugen Politiker, der bis jetzt noch seine sieben Sinne zusammen hat«, baut der DDR-Nostalgiker seine Bühnenprogramme.

Zweimal ist der selbsternannte »bekennende Linke«, der den Biedermann in seiner Menschenfeindlichkeit bestärkt, in letzter Zeit im Steintor-Varieté aufgetreten. Es hagelte Protest. Der Eklat führt beinahe zum Ausschluss des Varieté-Geschäftsführers aus der Stadtratsfraktion der Linken, in der der erklärte Verteidiger der Kunstfreiheit seit zehn Jahren parteiloses Mitglied ist.

Die Lesung geht los. Ganz voll ist es nicht. »Die kommt bestimmt mit ihrem dicken Mercedes und durch den Hintereingang«, haben zwei junge Typen gerade noch gelästert. Der Großteil des Publikums hat gefärbte, weiße, mindestens aber graue Haare. Die 54-jährige Wagenknecht wirkt in diesem Umfeld fast jugendlich. »Eine schöne Frau«, schwärmt eine Besucherin.

Wagenknecht könnte im Raum fast die Einzige mit einem Elternteil sein, das nicht in Deutschland geboren ist. Ihren »Vater aus dem Iran« wird sie im Laufe des Abends erwähnen. Als Beweis gegen die »unsäglichen« Vorwürfe gegen sie, dass sie irgendwie rechts sei, fabriziert von »vermeintlichen Haltungsjournalisten«, die sich mehr »als Erziehungsbeauftragte des Volkes denn als kritische Kontrolleure der Regierung verstehen«. Die Medien, allen voran die öffentlich-rechtlichen, seien für »das demokratische System ein ernstes Problem«, liest Wagenknecht aus ihrem Buch. Sie selbst ist durch ihre Dauerpräsenz in diesen Medien, durch ihre Buchveröffentlichungen und Lesungen zur Millionärin geworden.

Im Saal wimmelt es von Bodyguards, Polizeibeamten und Wachschutzleuten. An den Star kommt hier keiner ran. Der Abend in Halle steht für die Stoßrichtung ihrer neuen Partei: Deutschland schaffe sich derzeit ab, zieht Wagenknecht Vergleiche mit der Zerschlagung der DDR-Industrie. Mit SPD, Grünen und FDP sei die »schlechteste Regierung, die die Bundesrepublik je hatte« am Hebel. Eine »alarmierende Kriegsbesoffenheit« wie in den »dunkelsten Zeiten des preußischen Militarismus« treibe das Land in einen Krieg gegen Russland und China, sagt die Autorin.

Ob Corona-Pandemie, Krieg, Geschlechterfragen: »Andersdenkende« würden mit »Fanatismus bekämpft«, wie man es »nur von religiösen Eiferern und aus der extremen Rechten kennt«, meint Wagenknecht. Sie habe die DDR erlebt, betont Wagenknecht. Heute herrsche wie damals »Blockwartmentalität und Denunziantentum«.

In Deutschland gebe es zu wenige Wohnungen und Lehrkräfte, Steuergerechtigkeit sei ein Problem, erklärt die Noch-Linke-Parlamentarierin. Vor allem aber gebe es viel zu viele Fremde: »jedes Jahr eine Million«. Beim »radikalen Islamismus« sei man »viel zu blauäugig« gewesen, dabei predige der »den Hass gegen unsere Kultur«, warnt sie.

Es drohe eine »gepaltene Gesellschaft, die am Ende unser Land in einer Weise verändert, die die Menschen nicht wollen und dem Land überhaupt nicht gut tut.« Darüber zu reden, sei »doch nicht rechts!«. Es gebe durchaus Migranten, »die sind fleißig, die arbeiten hier, die bringen sich ein«, räumt sie ein. Das sei »für unser Land nicht von Schaden.« Das Problem sei aber »die Größenordnung, die wir zur Zeit haben, plus eben dann noch eine sich ausbreitende Kultur, die wirklich auch sich in einer klaren Abgrenzung zu unserem Land definiert«.

Natürlich sei sie, dagegen, die »Schotten dicht« zu machen, beteuert Wagenknecht. Aber: »Es muss ein Limit geben.« Menschen, denen Tod und Verfolgung drohe, dürften kommen. Aber sonst sei klar: »Migration ist nicht die Lösung für das Problem der Armut auf unserer Welt«. Und: »Hochkriminelle Schleuserbanden« würden entscheiden, »wer nach Europa kommt«, behauptet sie. Applaus brandet auf, immer wieder.

Es ist ein Spiel mit Textbausteinen, die so auch von Rechtsaußen-Politikern kommen könnten. Mit Altbundespräsident Joachim Gauck, mit diversen CDU-, CSU- und AfD-Politikern ist Wagenknecht sich ohnehin einig, dass Abschiebungen beschleunigt werden müssen und dass Menschen, deren Asylanträge nicht anerkannt wurden, die Sozialleistungen gestrichen werden sollten, wegen derer sie angeblich nach Deutschland kämen. Die Kriege »des Westens«, die »dümmste« Regierung, die »Linksliberalen« als Schuldige für Wirtschaftskrise und die wachsende Zahl Schutzsuchender. Das Publikum ist begeistert. Und als ein Besucher im ersten Rang eine Regenbogenflagge auspackt, wird er ausgenbuht.

Nach der Lesung zieht sich der Bücherverkauf hin. »Das Warten lohnt sich, das ist die künftige Bundeskanzlerin«, sagt jemand. Geduldig stehen die Menschen vor der Bühne Schlange, bis auch sie vor Wagenknechts Tisch stehen und ein Autogramm von ihr bekommen.

Auf einem Stuhl dicht neben der Autorin, die in jedes Buch einen geschwungenen Kringel zieht, sitzt ein Mann und filmt. Es ist Martin Lejeune. Der Mann ist berüchtigt: konvertierte zum Islam und verfolgte vor Jahren mit seiner Kamera den damaligen Chef der Linke-Bundestagsfraktion, Gregor Gysi, bis auf die Toilette, um ihn wegen angeblich zu großer Israel-Freundlichkeit zu stellen.

Wagenknecht, damals Fraktionsvize, stellte sich vor die Fraktionsgenossinnen, die Lejeune damals ins Parlament geladen hatten. Die Hamas nennt Lejeune »eine normale Partei«. Er fordert von der Terrorgruppe mehr Waffengewalt »zur Befreiung von Jerusalem«, will Juden »brennen« sehen, verherrlicht den islamistischen »Märtyrertod«, stellt öffentlich den Holocaust in Frage. Er war bei Querdenken dabei und verehrte eine Zeitlang fanatisch den türkischen Präsidenten Erdoğan.

Mittlerweile rührt Lejeune, dem wegen seiner Fake-News-Berichterstattung aus Gaza auch der Spitzname »Pressesprecher der Hamas« verpasst wurde, die Werbetrommel für die Wagenknecht-Partei. Er versteht sich immer noch als Linker.

Derweil fragt ein Internet-Influencer der AfD Wagenknecht, wie sie zur viel beschworenen Brandmauer gegenüber der rechten Partei stehe. Man solle aufhören, sich damit zu beschäftigen, »was wir mit der AfD machen«, sagt sie. Der Mann interviewt auch ein Renterpaar: Was sie Wagenknecht fragen würden, wenn sie könnten. »Na, wann fällt endlich die Brandmauer?«, sagt der Mann. Ein älterer Herr meint, »die Dame« sei interessant. Ob er ihre Partei wählen würde? Lieber mal abwarten, meint er. Es gebe ja »in Deutschland zwei interessante Frauen: die Alice und die Sahra«. Alice Weidel ist Chefin der AfD. Die Sahra gründet gerade eine eigene Partei.

Anmerkung der Redaktion: Martin Lejeune legt Wert auf die Feststellung, dass er sich von früheren, in diesem Artikel erwähnten Äußerungen über die Hamas distanziert hat und diese Positionen nicht mehr vertritt.

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