»Bürgerrat Ernährung im Wandel«: Plötzlich eine Stimme haben

Im Bürgerinnenrat Ernährung kommen auch Menschen zur Politik, die bislang nicht viel damit zu tun hatten

  • Louisa Theresa Braun
  • Lesedauer: 5 Min.
Ein Regal voller Bioprodukte: Um die mitunter unübersichtliche Kennzeichnung von Lebensmitteln ging es in der vergangenen Sitzung des Bürger*innenrats Ernährung.
Ein Regal voller Bioprodukte: Um die mitunter unübersichtliche Kennzeichnung von Lebensmitteln ging es in der vergangenen Sitzung des Bürger*innenrats Ernährung.

Immer mehr digitale Fenster erscheinen auf dem Bildschirm und geben Einblick in die über ganz Deutschland verteilten Wohn- oder Arbeitszimmer der Mitglieder des sogenannten Bürger*innenrats. Es ist die zweite Online-Sitzung des Rates, der Ende September eingesetzt und vom deutschen Bundestag damit beauftragt wurde, Empfehlungen für die Politik zum Thema »Ernährung im Wandel« zu erarbeiten. In einem der Fenster sind die beiden Moderatorinnen an einem Stehpult zu sehen. »Winken Sie doch mal, wenn Sie alles hören!«, fordert eine von Ihnen die Teilnehmenden auf. In den meisten Fenstern des Video-Meetings wird eifrig gewunken.

Bald sind über 180 Teilnehmende zugeschaltet: 160 Mitglieder des Bürger*innenrates plus Organisator*innen, Expert*innen und Technik-Support. Thema der Sitzung sind Label und Kennzeichnung von Lebensmitteln. Die zugeschalteten Expert*innen geben Inputs dazu. So erklärt Achim Spiller, Agrarwissenschaftler aus Göttingen, welche Möglichkeiten der Staat hätte, Kaufentscheidungen zu beeinflussen: von Informationen über Label und Subventionen bis hin zu Verboten. In Videovorträgen anderer Forscher*innen geht es um Lenkungssteuern, die Treibhausgasemissionen bestimmter Lebensmittel oder den Nutri-Score, eine Nährwertkennzeichnung von Lebensmitteln.

Wenn ein Begriff fällt, der womöglich nicht allen Teilnehmenden klar ist – Greenwashing zum Beispiel –, wird er im Chat erklärt. Zu Beginn und nach den Vorträgen werden Gedanken und Fragen gesammelt und von den Wissenschaftler*innen beantwortet. Zwei Mal werden die Mitglieder in rund zehnköpfige moderierte Kleingruppen aufgeteilt, in denen Ideen diskutiert und konkretisiert werden. Zur Erholung gibt es nach der Hälfte der dreistündigen Sitzung nicht nur eine Pause, sondern außerdem eine Auflockerungs- und Atemübung, die eine Mitarbeiterin per Video vormacht – »Sie müssen nicht mitmachen, Sie dürfen aber«, lädt die Moderatorin ein.

Ein wenig anstrengend sei der Abend dennoch gewesen, sagt Simon Hofman, ein Mitglied des Bürger*innenrates, am Folgetag zu »nd«. »Drei Stunden sind schon eine Hausnummer.« Als Freiberufer könne er sich seine Zeit jedoch gut einteilen. Und eigentlich findet er, bräuchte man für das komplexe Thema noch mehr Zeit. »Man erfährt unfassbar viel Neues«, erzählt er. Er sei positiv überrascht davon, wie verständlich und ausgewogen die Masse an Informationen vermittelt werde.

Auch die Diskussionen mit den anderen Teilnehmenden seien zwar manchmal kontrovers, aber immer sachlich und freundlich gewesen. So habe es am ersten Wochenende – eines von drei Präsenz-Wochenenden in Berlin – eine intensive Debatte darüber gegeben, mit welchen Oberthemen sich der Bürger*innenrat beschäftigen soll. Aus einer Abstimmung gingen dann die Themenkomplexe Label und Kennzeichnen, Tierwohl und Tierhaltung sowie Bezahlbarkeit von Lebensmitteln hervor.

Vor Beginn des Bürger*innenrates habe er mit Politik nicht viel zu tun gehabt. Als er dann per Brief darüber informiert wurde, einer von 20 000 zu sein, die für den Bürger*innenrat ausgelost werden könnten, sei er aber interessiert gewesen und habe sich angemeldet. Das habe recht einfach per QR-Code funktioniert – »hätte es länger gedauert, hätte ich es wahrscheinlich gar nicht gemacht«. Obwohl er gar nicht geglaubt hatte, dass er ausgelost werde, habe er die Lotterie live verfolgt. Als dann die Zusage kam, »war das ein positiver Schock«, erzählt er. Jetzt sei er froh, dabei zu sein, denn »plötzlich habe ich eine Stimme. Das ist etwas Besonderes. Es fühlt sich an wie eine gelebte Demokratie«, sagt Hofmann.

Eine mehrstufige Zufallsauswahl unter Einbeziehung von Meldeamtsdaten sowie Fragebögen sollte gewährleisten, dass der Bürger*innenrat die Bevölkerung Deutschlands ab 16 Jahren möglichst repräsentativ abbildet, sowohl was Wohnort, Alter, Geschlecht und Ausbildung als auch was vegane oder vegetarische Ernährung betrifft. Hofmann glaubt, dass das gut gelungen sei. Ihm sei aufgefallen, dass ein Großteil der Teilnehmenden deutlich älter sei als er mit seinen 27 Jahren – aber das sei ja repräsentativ für die deutsche Bevölkerung. Wer nicht so bewandert mit Online-Meetings und PCs ist wie Hofmann, der als Webdesigner arbeitet, bekomme für die Bürger*innenratsarbeit technische Unterstützung oder sogar die Ausstattung gestellt.

Über Ernährung habe er sich bislang ebenso wenige Gedanken gemacht wie zur Politik. Er versuche, weniger Fleisch und mehr Obst und Gemüse zu essen, doch einen richtigen Bezug zum Thema habe er nicht. Das sei aber nicht schlimm: »Man muss kein Experte sein, es geht um die eigene Meinung und die kann man sich bilden«, erklärt er.

Bis Februar erarbeitet der Bürger*innenrat neun Empfehlungen zum Thema, die in Form eines Gutachtens an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) übergeben werden. Erst danach entscheidet der Bundestag, wie er weiter damit umgeht. Die Befürchtung zivilgesellschaftlicher Initiativen wie des Vereins Klimamitbestimmung, dass die Empfehlungen in Schubladen verschwinden, teilt Hofmann nicht. »Wir sind mit Herz und Verstand dabei, die Wissenschaft begleitet das – mein Gefühl sagt, dass wir ein positives Ergebnis erzielen«, ist er überzeugt.

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