Hauptbahnhof Hamburg: Die Elenden sollen verschwinden

In Hamburg wird rund um den Hauptbahnhof eine planlose Verdrängungspolitik betrieben

  • Volker Stahl, Hamburg
  • Lesedauer: 8 Min.
Ein Mann auf Krücken bittet Passanten am Hamburger Hauptbahnhof um Kleingeld.
Ein Mann auf Krücken bittet Passanten am Hamburger Hauptbahnhof um Kleingeld.

Im Windschatten einer Werbetafel zündet sich ein Mann eine Crack-Pfeife an. Dann überquert er die Kurt-Schumacher-Allee, eine Hauptstraße von der Hamburger Innenstadt nach Osten, wankt am Museum für Kunst und Gewerbe vorbei, einem Prachtbau von 1874, und verliert sich im Gewimmel zwischen dem Zentralen Omnibusbahnhof, dem Steindamm, wo sich eine Gemüsehandlung an den nächsten Döner-Imbiss reiht, und dem Hauptbahnhof.

Seit über einem Jahr vergeht kaum ein Tag, an dem nicht von Politik und Medien das Bild eines solchen Crack-Rauchers beschworen wird, um die Zustände im Hauptbahnhof in schwärzesten Farben zu malen. Der Süchtige kommt von der Drogenhilfeeinrichtung »Drob Inn«, die täglich von rund 400 Menschen aufgesucht wird. Davor, im August-Bebel-Park unweit des Gewerkschaftshauses, versammelt sich die Klientel zu ungestörtem Konsum und Handel. Etwa 100 sind es an diesem Herbstnachmittag. Im Sommer sind es mehr, und sie halten sich den ganzen Tag hier auf.

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Das »Drob Inn« gibt es seit 2003, aber erst seit einiger Zeit wird es skandalisiert: seit die Fraktionen von AfD und CDU in der Hamburger Bürgerschaft, dem Stadtparlament, den Hauptbahnhof als Kriminalitätshochburg für sich entdeckt haben und die Regierung von SPD und Grünen damit unter Druck setzen. Die Legende besagt, die Kunden des »Drob Inn« würden die Sicherheit im 400 Meter entfernten Hauptbahnhof erheblich beeinträchtigen. Belastbare Daten gibt es aber nicht. »Da keine statistischen Erhebungen vorliegen, können wir hierzu keine validen Aussagen treffen«, erklärte ein Polizeisprecher unlängst.

Mit mehr als einer halben Million Menschen täglich ist der Hauptbahnhof der am stärksten frequentierte deutsche Bahnhof; in Europa ist nur der Gare du Nord in Paris betriebsamer. Als die AfD-Fraktion im Februar 2021 Zahlen über die Kriminalität abfragte, beschied der Senat sie damit, dass statistische Erhebungen nur für den Ortsteil St. Georg vorlägen, in dem sich der Hauptbahnhof befindet. In dieser Tabelle für 2020 gab es keine Einträge für Mord, Totschlag und Vergewaltigung. Unter Diebstahl wurden 787 Taten verzeichnet, 21 unter Raub und 374 unter Rauschgiftdelikten.

Der Hauptbahnhof sei »der gefährlichste Bahnhof« bundesweit, lautet trotzdem eine oft wiederholte Schlagzeile. Dabei ist es nicht verwunderlich, dass der Bahnhof mit der höchsten Frequenz an Reisenden und Passanten auch die Kriminalitätsstatistik anführt. Über die tatsächliche Gefährlichkeit besagt das erst etwas, wenn die Zahl der Straftaten in Relation gesetzt wird zur Zahl der Menschen, die sich dort aufhalten.

Auch ein genauer Blick auf die Realität hinderte die CDU nicht daran, ein Waffenverbot für den Hauptbahnhof zu fordern. Dem gab der Senat nach und verhängte es im Oktober. Mitte des Monats präsentierte die »Hamburger Morgenpost« eine Tagesbilanz der Polizei: sechs Verstöße. Um was für Waffen es sich handelte, wurde nicht mitgeteilt. Das Taschenmesser, das ein Obdachloser nicht deshalb dabei hatte, um eine Straftat zu begehen, sondern weil er es brauchte, um Brot zu schneiden? Immerhin werden Personen, die ein frisch gekauftes Messerset zu ihrer Wohnung in der Nähe transportieren, nicht mit einem Bußgeld von mindestens 200 Euro belegt. Für das kommende Frühjahr ist ein Alkoholverbot auf dem Bahnhofsgelände angekündigt.

Im März 2023 wurde die »Allianz sicherer Hauptbahnhof« gegründet. Die für den Bahnhof selbst zuständige Bundespolizei, das Sicherheitspersonal von der Deutschen Bahn und von der für die U-Bahn verantwortlichen Hochbahn sowie die Hamburger Polizei bilden seitdem gemeinsame Streifen. Auf Instagram präsentierte sich der SPD-Innensenator Andy Grote mehrfach bei gemeinsamen Rundgängen mit den Ordnungshütern. Der Polizeipräsident stellte dabei klar, dass es weniger um die Bekämpfung von Kriminalität gehe als um das »subjektive Sicherheitsgefühl«.

Dem soll auch die neueste Maßnahme dienen. Im Oktober wurde die kostenlose Smartphone-App »Safe Now« vorgestellt. Wenn man sich im Hauptbahnhof bedroht fühlt, kann man einen Button betätigen, der eine selbst erstellte digitale Gruppe alarmiert. Wie aber jemand aus dieser Gruppe helfen könnte, der nicht selbst an Ort und Stelle ist, außer den Notruf zu wählen, ist unklar. »Ziel von ›Safe Now‹ ist es, den Nutzern der App in ihrem täglichen Leben ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln«, heißt es in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen. Nicht um echte Hilfe geht es also, sondern darum, einen Anschein zu erzeugen. Damit wird allerdings eine permanente Bedrohung suggeriert und eine Vorstellung von »Elend und Ekel« erzeugt. Es geht darum, die »Verwahrlosung« zu beseitigen und jene vom Hauptbahnhof zu vertreiben, die anderswo erst recht unerwünscht sind: die Obdachlosen und vor allem die Drogensüchtigen. Tatsächlich ist aber die Zahl der Notrufe im Zusammenhang mit dem Hauptbahnhof seit 2018 rückläufig.

Zudem ist das »subjektive Sicherheitsgefühl« eine relative Größe. Der Autofahrer aus dem Stadtteil Eidelstedt, der den Hauptbahnhof nur vom Vorbeifahren und aus den Medien kennt, mag die Schlagzeile vom »Ort des Grauens« glauben. Die pensionierte Oberstudienrätin aus Bad Oldesloe, die den Hauptbahnhof über viele Jahre hinweg als Pendlerin erlebt hat und sich weiterhin mehrmals in der Woche dort aufhält, schüttelt über die vermeintliche Gefährlichkeit nur den Kopf. Die »Aufenthaltsqualität« des Hauptbahnhofs leidet weniger unter den unbürgerlichen Gestalten, die dort länger verweilen, als unter den Massen, die hindurchgeschleust werden. Für diese ist das 1906 eingeweihte Gebäude längst zu eng.

Ein Umbau ist überfällig, soll aber erst 2026 in Angriff genommen und frühestens in den 30er Jahren abgeschlossen sein. In diesem Jahr angebrachte zusätzliche Treppen außerhalb des Bahnhofsgebäudes haben noch keine spürbare Entlastung gebracht. Wenn Reisende eine mangelnde »Aufenthaltsqualität« bemerken, dann wohl vor allem deshalb, weil es zu eng ist, ihr Zug Verspätung hat oder ganz ausfällt.

Die Verdrängung von »Ekel und Elend« ist aber bereits gelungen. An diesem Herbstnachmittag ist rund um den Hauptbahnhof kein Obdachloser zu sehen. Der bevorzugte Aufenthaltsort am Ausgang zur Kirchenallee gegenüber dem Schauspielhaus ist gähnend leer. Hier befand sich der »Gabenzaun«, ein Gitter zu einem Bereich, auf dem Polizeifahrzeuge parken. Mehrere Initiativen versorgten hier bis vor kurzem Wohnungslose mit Lebensmitteln und Kleidung. Am 16. September rückte die Polizei zur Räumung an. Begründung: Die »Sondernutzung öffentlicher Wegeflächen« sei »weder beantragt noch im Vorwege angezeigt« worden.

Die Idee, die so verwirklicht wird, ist inzwischen über 30 Jahre alt. 1991 verkündete der Senat das »Betreuungskonzept für die Gesamtverkehrsanlage Hamburger Hauptbahnhof«, in dem es hieß: »Der Hauptbahnhof prägt als ›Visitenkarte‹ in erheblichem Maße das Image der Freien und Hansestadt Hamburg bei auswärtigen Gästen und das Hamburg-Bewusstsein von Bewohnern der Stadt und ihres Umlands.« Seither gab es immer wieder Bemühungen, »Elend und Ekel« zu verdrängen. So wie es sich Dirk Nockemann, der Chef der AfD-Fraktion, vorstellt, der einen »Sichtschutz« für das »Drob Inn« forderte, »damit unsere Familien nicht ständig damit konfrontiert werden«.

Versuche, die »Visitenkarte« sauber zu halten, gehen zulasten des angrenzenden Stadtteils St. Georg. Als Alternative für den Gabenzaun wurde dem Verein »Schau nicht weg« der nahe gelegene Hansaplatz angeboten, direkt vor dem Eingang der Seniorenbegegnungsstätte des Vereins »Lange aktiv bleiben«. Dieser konnte keine Einwände erheben, weil er von öffentlichen Zuwendungen abhängig ist. Der Widerspruch kam vom Stadtteilbüro, direkt daneben. Von einer »völlig unsensiblen, unklugen und letztlich nach hinten losgehenden Entscheidung«, spricht Michael Joho. Der 65-Jährige ist Vorsitzender des Einwohnervereins und Referent der Linke-Bürgerschaftsabgeordneten Heike Sudmann.

Joho wohnt am Hansaplatz, der eine eigene sozialpolitische Geschichte hat. Zuletzt wurden hier im Sommer Kameras für »intelligente Videoüberwachung« installiert. Die Aufnahmen werden automatisch auf »verdächtige Bewegungen« wie »Liegen, Fallen, Taumeln, Treten, Schlagen, Schubsen, Anrempeln, aggressive und defensive Körperhaltung« hin ausgewertet. Der Hansaplatz gilt als Umschlagplatz für Drogen, der Stadtteil St. Georg als zweites Rotlichtviertel neben St. Pauli. Laut Joho besteht der Unterschied zum Hafenquartier um die Reeperbahn darin, dass in St. Georg weniger organisierte Kriminalität anzutreffen ist; statt Zuhälterbanden gibt es einen »Hausfrauenstrich«.

Als bedrohlich, wie in den Medien oft behauptet, empfinde er die Lage aber nicht, betont Joho, der seit 1981 im Viertel wohnt. Für einige Jahre wurde der Hauptbahnhof seiner Funktion als »ein Lebensmittelpunkt, ein zentrales Wohnzimmer für eine große Zahl ausgegrenzter, benachteiligter und vereinsamter Menschen« gerecht. Inzwischen findet wieder eine Verdrängung gemäß der Visitenkarten-Doktrin statt. Was am Hauptbahnhof unsichtbar gemacht wird, verschwindet nicht, sondern sucht sich andere Orte. Wie den Hansaplatz.

Auf der Gegenseite des Hauptbahnhofs liegt mit Mönckeberg- und Spitalerstraße die Haupteinkaufszone der Stadt. Sicherheitspersonal sorgt dafür, dass sich dort niemand aufhält, der nicht als Kunde in Betracht kommt. Immerhin wird – nach mehrfachen Verbotsanstrengungen – Straßenmusik geduldet. Und die christlichen Prediger, die am Hauptbahnhof ihre Ansprachen gehalten haben, sind hierhin ausgewichen.

»Chaos« prophezeite Michael Joho schon vor über 20 Jahren als Ergebnis von Verdrängungspolitik, als das »Drob Inn« als zentrale Anlaufstelle für Süchtige gerade in Planung war. Damals war die regierende SPD durch das Thema »innere Sicherheit« gewaltig unter Druck und musste schließlich 2001 die Macht an die CDU und ihren Koalitionspartner, die Partei Rechtsstaatlicher Offensive des Amtsrichters Ronald Schill abtreten. Heutzutage spielen AfD und CDU wieder die Kriminalitätskarte, und die rot-grüne Regierung verfällt in Aktionismus. Die Obdachlosen, die aus der Innenstadt vertrieben sind, verteilen sich unterdessen überall in der Stadt. Sie schlagen ihre Lager an der Hoheluftchaussee im Bezirk Eimsbüttel und der Holstenstraße in Altona auf. Einige von ihnen werden auch im nächsten Winter erfrieren – von Politik, Medien und Touristen weitgehend unbeachtet.

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