Drama »Auf dem Weg« im Kino: Die Rückeroberung der Freiheit

Oscarpreisträger Jean Dujardin spielt im Drama »Auf dem Weg« einen sturen Schriftsteller, der zu Fuß Frankreich durchqueren will

  • Gabriele Summen
  • Lesedauer: 4 Min.
Die Wanderung ist für Pierre (Jean Dujardin) in erster Linie eine Reise zu sich selbst.
Die Wanderung ist für Pierre (Jean Dujardin) in erster Linie eine Reise zu sich selbst.

»Acht Meter reichten aus, um mir die Rippen, die Wirbel und den Schädel zu brechen. Acht Meter reichten, um 50 Jahre zu altern.« Diese bitteren Worte stammen aus dem Mund des Reiseschriftstellers Sylvain Tesson, der sich in dem mehrfach ausgezeichneten Dokumentarfilm »Der Schneeleopard« gemeinsam mit dem Fotografen und Filmemacher Vincent Munier auf eine faszinierende Reise durch den Himalaya machte.

Was die wenigsten jedoch wissen: Jahre zuvor, 2012, fiel der 42-jährige Tesson betrunken von einer Balkonbrüstung, überlebte schwer verletzt und kämpfte sich bei einer 1300 Kilometer langen Wanderung durch ganz Frankreich mühselig ins Leben zurück.

Darüber schrieb er ein Buch, das Denis Imbert nun mit Oscarpreisträger Jean Dujardin (»The Artist«) in der Hauptrolle verfilmte, wobei er sich jedoch nicht sklavisch an die Vorlage hält.

So heißt die Hauptfigur im Film auch nicht Sylvain, sondern Pierre. Nach und nach erfährt man in Rückblenden und durch Gespräche mit Menschen, denen er auf seinem Wandertrip begegnet, seine Geschichte. Vor seinem Unfall war der erfolgreiche Schriftsteller und Abenteurer ein rechter Schwerenöter, der sich auch schon mal leichtsinnig über die Balkonbrüstung Zugang zu den Wohnungen seiner Freunde verschaffte. Zudem hatte Pierre, bevor er bei so einer Aktion einmal abrutschte und in die Tiefe stürzte, ein massives Alkoholproblem.

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Sein Verleger erklärt ihn für verrückt, als Pierre ihm kurz nach dem Krankenhausaufenthalt – sich noch auf einen Stock stützend – eröffnet, dass er vorhat, die sogenannte »Diagonale du vide« zu wandern. Diese imaginäre Linie mitten durch die bevölkerungsärmsten Gebiete Frankreichs ist teilweise extrem beschwerlich. Doch Pierre will partout innerhalb von knapp drei Monaten diesen »Weg« vom südlichen Mercantour-Park über das Zentralmassiv bis hin zum Meer an die Küste der Normandie wandern.

Mit zwei Nordic-Walking-Stöcken gewappnet, marschiert der sture Abenteurer los, um »auf verborgenen Wegen der Maschinerie der Stadt und der Gefangenschaft toter Bildschirme zu entkommen«. Doch er macht bereits nach 17 Kilometer das erste Mal schlapp. Sein besonders lädiertes Bein will nicht so recht, wie er will. Doch Pierre, der glaubwürdig von Dujardin verkörpert wird, gibt nicht auf. Er schläft meist im Freien, kämpft sich verbissen durch Geröllhalden, Wiesen und Wälder.

Seine Gedanken während der Tour de Force notiert der Autor, wie gewohnt, doch diese Wanderung ist für ihn in erster Linie eine Reise zu sich selbst. Pierre hat dem Alkohol abgeschworen und denkt über sein Leben und seine Beziehungen nach. Seine Selbstreflexionen hört man des Öfteren aus dem Off: »Wenn die Angst an die Tür klopft und du den Mut hast zu öffnen, wirst du feststellen, dass niemand davorsteht.«

In beeindruckenden Cinemascope-Bildern fängt Kamerafrau Magali Silvestre de Sacy seine Reise durch wenig bis gar nicht besiedelte Gegenden Frankreichs ein. Deshalb sollte man sich den Film unbedingt im Kino anschauen.

Pierres Innenschau, die man in Rückblenden miterlebt, hätte allerdings ruhig etwas mehr in die Tiefe gehen können. Weder seine Beziehung zu seiner verstorbenen Mutter, die auch eine Abenteurerin war, noch die zu seiner letzten Freundin, die ihn noch im Krankenhaus verlässt, kann man wirklich nachvollziehen.

Gut, dass Pierre zwischendurch immer wieder auch andere Menschen trifft, mit ihnen ein Stück des Weges zusammen geht. Besonders berührend ist eine Sequenz, in der er nach einem nicht ganz ungefährlichen Sturz auf einen jungen Mann trifft. Dylan (Dylan Robert) scheint auf seine Art genauso verloren wie Pierre. Als sie sich nach ein paar Tagen voneinander verabschieden, spürt man deutlich den Abschiedsschmerz zweier Menschen, die sich zufällig begegnet sind und aufeinander eingelassen haben.

Auch bei Pierres flüchtigen, aber herzlichen Begegnungen mit Bäuer*innen und Dorfbewohner*innen, die von der Landflucht betroffen sind, deren malerische Heimatdörfer veröden und deren medizinische Versorgung nicht mehr gewährleistet ist, hätte man gern ein wenig mehr erfahren. Doch die kurzen Gespräche lassen bereits erahnen, welche großen Verluste auch uns noch in vielen Gegenden Europas bevorstehen.

Immer wieder auch werden die großen Gefahren, denen sich Pierre aussetzt, deutlich. So hat er einmal doppeltes Glück im Unglück, als er – als Folge seines schweren Unfalls – einen epileptischen Anfall erleidet. Zufällig ist ein alter Freund und Weggefährte zugegen, der Hilfe holen kann, aber auch nur, weil sie sich nicht gerade auf der unwirtlichen Spitze eines Berges befinden.

Immer noch recht machohaft, aber dennoch wesentlich sympathischer, schreibt der geläuterte Pierre gegen Ende in sein Tagebuch: »Das Wichtigste hatte ich zurückbekommen: Das Recht abzuhauen und die Braut zu erobern, die einen niemals enttäuscht: Die Freiheit.«

Egal, ob man nun die Freiheit als Braut oder Bräutigam bezeichnet – Pierres Wanderung durch die unberührte Natur weckt auf jeden Fall ungemeines Fernweh in diesen grauen Novembertagen.

»Auf dem Weg«; Frankreich 2023. Regie: Denis Imbert, Buch: Denis Imbert, Diastème. Mit: Jean Dujardin. 95 Min. Start: 30. November.

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