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US-Sozialpolitik: Konstruierte Bedrohung

»Die Erfindung der ›Unterklasse‹« ist eine bedeutende Analyse zur neoliberalen Wende der US-Sozialpolitik

  • Axel Berger
  • Lesedauer: 7 Min.
Rassistische Klassenjustiz, 14. Juli 1977 in New York City: öffentliche Festnahme von schwarzen Männern, denen die Teilnahme an Plünderungen vorgeworfen wird.
Rassistische Klassenjustiz, 14. Juli 1977 in New York City: öffentliche Festnahme von schwarzen Männern, denen die Teilnahme an Plünderungen vorgeworfen wird.

Seit dem Sommer des Jahres 1977 wurde in den USA in fast allen Medien, an Universitäten und in Wahlkampfreden eine neue Bedrohung ausgemacht, die für etwa zwei Jahrzehnte die innenpolitischen Debatten des Landes (und teilweise darüber hinaus) prägen sollte: die neue urbane »Unterklasse«. Ausgangspunkt dieses Diskurses waren die Ereignisse, die sich im Zuge des eintägigen Stromausfalls in New York City am 13. und 14. Juli desselben Jahres abgespielt hatten.

Aus den Armenvierteln der Stadt, vor allem aus Harlem und der südlichen Bronx, waren plündernde Horden durch die seit den späten Abendstunden im Dunkeln liegende Stadt gezogen – und zwar ohne dass, wie bei den Race Riots der 60er Jahre, explizite Forderungen nach sozialer oder politischer Teilhabe erhoben worden wären. Als die Lichter wieder angingen, fiel die Bilanz verheerend aus: Über 1600 Geschäfte waren ausgeräumt, mehr als 1000 Feuer gelegt, fast 800 Polizisten, Feuerwehrleute und Passant*innen verletzt und vier Menschen ermordet worden. Der Schaden wurde damals auf insgesamt 350 Millionen US-Dollar geschätzt, nach heutigem Wert mehr als 1,7 Milliarden Dollar. Von einer »Nacht des Terrors, wie sie die Stadt noch niemals erlebt hatte« sprach im Anschluss New Yorks damaliger Bürgermeister Abe Beame.

Propaganda gegen (schwarze) Arme

In der Folge nahmen die Warnungen vor diesem vermeintlich neuen Phänomen beinahe panische Züge an. Den Anfang machte das »Time Magazine«. Vom August-Cover der Zeitschrift, die mit dem bis dahin praktisch unbekannten Begriff der »Unterklasse« – ein Terminus, der von dem schwedischen Ökonom Gunnar Myrdal übernommen worden war – aufmachte, blickten finster dreinblickende Gestalten die Leser*innen an. Alle waren Afroamerikaner*innen und offensichtlich arm. Mitten in den großen Metropolen des Landes, hieß es zur Erklärung im Leitartikel des Heftes, lebe aktuell eine »große Gruppe von Menschen, die widerspenstiger, sozial fremder und feindseliger ist, als es sich jemand hätte vorstellen können«.

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Von welcher Art diese Bedrohung sein würde, war da bereits ausgemacht. Diese »Minderheit innerhalb einer Minderheit«, hieß es weiter, produziere »einen unverhältnismäßig hohen Anteil an jugendlichen Straftätern, Schulabbrechern, Drogensüchtigen und Müttern, die von Sozialhilfe leben, sowie einen Großteil der Kriminalität im Erwachsenenalter, der Zerrüttung der Familien, des Verfalls der Städte und des Bedarfs an Sozialausgaben«. Der dringende Handlungsbedarf, den der Autor George Russell am Ende seines Artikels der Öffentlichkeit nahelegte, bedurfte nach dieser Darstellung scheinbar kaum noch einer Erklärung.

Es traf sich gut, dass die Konzepte zu einer neuen neoliberalen Armutspolitik bereits in der Schublade lagen. In Abgrenzung zum »Krieg gegen die Armut«, den die Regierung Lyndon B. Johnsons in den 60er Jahren ausgerufen hatte, allerdings mit mäßigem Erfolg, hatten konservative Stiftungen und Think Tanks seit Anfang des neuen Jahrzehnts fieberhaft daran gearbeitet, hier einen paradigmatischen Wandel herbeizuführen. Anstatt einer Ausdehnung von Sozialausgaben forderten vor allem die Ford Foundation und die 1974 eigens zu diesem Zweck gegründete Manpower Development Research Coorporation (MDRC), Arbeitsmoral und Eigeninitiative der Armutsbevölkerung zu stärken, dabei aus taktischen Gründen aber eine »direkte Konfrontation mit der Rassenfrage zu vermeiden«, wie es in dem Konzept zur Entwicklung von staatlich finanzierten Jobtrainings der MDRC für Langzeitarbeitslose hieß. Für die seit 1977 breit einsetzende Kampagne gegen die neuen Armen erwies sich der vermeintlich ethnisch neutrale Begriff der »Unterklasse« dabei als ideale Grundlage.

Angetrieben von hunderten Zeitungsartikeln, aber auch von der erodierenden Gewaltkriminalität in den Städten des Landes brach sich dieser Diskurs öffentlich Bahn. Wie stark diese zunehmende Hegemonie war, ist daran zu ersehen, dass sich selbst ein Politiker wie Edward Kennedy, der Bannerträger des progressiven Flügels der Demokraten, diese Sichtweise zu eigen machte. Ausgerechnet auf dem Kongress der Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) markierte er bereits 1978 das »heimtückische Anwachsen der Unterklasse« als das »große, unausgesprochene Problem des heutigen Amerika«. Und die Forderungen zur Bekämpfung dieser Bedrohung waren stets dieselben, die bereits im »Time Magazine« und den Schriften der Ford Foundation vorformuliert waren: Reduzierung der Sozialausgaben, Leistungsprämien im öffentlichen Schulwesen, Verschärfung polizeilicher Maßnahmen, Ausbau der Gerichte und Gefängnisse und Subventionierung schlecht bezahlter Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft.

Insbesondere in den 80er Jahren machte sich die neue US-Regierung unter Ronald Reagan daran, wenn auch zunächst vorsichtig, diese Vorschläge auch politisch umzusetzen. Vor allem der 1982 erschienene Bestseller »The Underclass« des New Yorker Journalisten Ken Auletta, in dem er das Verhalten der Abgehängten als »abnormal« denunziert und damit jedes Mitleid mit ihnen als für die öffentliche Ordnung geradezu gefährlich dargestellt hatte, sekundierte diesen Angriffen. Der französische Soziologe Loïc Wacquant schreibt in seiner gerade erschienen Studie zur »Erfindung der ›Unterklasse‹« über die kaum zu unterschätzende Bedeutung dieser neuen Sicht auf die Armen: Aulettas Buch »popularisierte das Wort ›Unterklasse‹ in der gebildeten Öffentlichkeit und im politischen Personal und etablierte sich schnell als eine zentrale Referenz, die von anderen Journalisten sowie von Akademikern und Denkern gleichermaßen als Beweis für die Existenz dieser Gruppe herangezogen wurde«.

Von »Welfare« zu »Workfare«

Es ist das große Verdienst des in Berkeley lehrenden Wacquant, diese bisher kaum wahrgenommene Geschichte der neoliberalen Wende in der US-amerikanischen Sozialpolitik einer eingehenden diskursanalytischen Darstellung unterzogen zu haben. Ausgehend von dem Paradigmenwechsel Mitte der 70er Jahre begibt er sich auf die Spuren der nunmehr mit hunderten Millionen an Dollars ausgestatteten Stiftungen und Institute und ihres ideologischen Siegeszuges. Ansetzen kann der Bourdieu-Schüler und Star der Theorieszene dabei an seinen diversen Studien über Ghettos, Gefängnissysteme und Stadtentwicklung in den USA, die ihn einst zur Recherche sogar in die Boxclubs der Chicagoer Ghettos geführt hatten, in denen er über Jahre mittrainiert hatte.

Wacquant macht deutlich, dass der »atemberaubende Triumph« des Neoliberalismus – in den USA vor allem der Übergang vom System des Welfare zu dem von Workfare und Prisonfare – ohne die Stigmatisierung der stets mit den Afroamerikaner*innen assoziierten Armen als arbeits-, leistungs- und integrationsunwillige »Unterklasse« kaum so reibungslos hätte vonstattengehen können. Und er weist darauf hin, dass es sich bei diesem Begriff niemals um eine analytische Kategorie gehandelt habe, sondern um eine sehr wirkungsvolle Waffe zur »kryptorassialen moralischen« Feindbestimmung, mit der es gelungen sei, vor allem in der US-Mittelklasse Abscheu und Ängste zu erzeugen; ein Diskurs übrigens, auf den etwa im Deutschland der Agenda-2010-Vorbereitung auch nur zu gerne zurückgegriffen wurde.

Auch das plötzliche Verschwinden der »Unterklasse« aus der öffentlichen Berichterstattung und den Universitätsseminaren stützt diese These: Mit der 1996 durch die Clinton-Administration in Zusammenarbeit mit der republikanischen Kongress-Mehrheit vorgenommenen Reform der Sozialhilfe, die Transferempfänger*innen verpflichtete, Arbeit im Niedriglohnsektor anzunehmen, verloren die neoliberalen Propagandisten langsam das Interesse an den wieder und wieder aufgelegten Geschichten der »rassialisierten Volksteufel« (Wacquant) aus der »Unterklasse«. Der Begriff hatte seine Schuldigkeit getan.

Ökonomische Grundlagen

Dabei leugnet Wacquant keineswegs die wirklichen Veränderungen, die seit den tiefen Krisenerscheinungen der US-Ökonomie und der erfolgten Deindustrialisierung seit Anfang der 70er Jahre stattfanden und in den US-amerikanischen Städten tatsächlich zu einer zeitweise kaum beherrschbaren Spirale aus Verarmung, Perspektivlosigkeit, neuem Rassismus und Gewalt führten. »Die Entstehung des postindustriellen Prekariats, die steigende Zuwanderung und die Wohnungsknappheit, die Bestrafung der Armut und der Tod des Ghettos« durch die Abwanderung der entstehenden schwarzen Mittelschicht hätten zu einer »Erosion der sozialen Staatsbürgerschaft in den unteren Regionen des sozialen und physischen Raums« geführt, die Explosionen wie die während des New Yorker Stromausfalls geradezu unvermeidbar gemacht hätten.

Wer mehr über die makroökonomischen Prozesse der Zeit erfahren will, wird andere Literatur, etwa Robert Brenners »The Economics of Global Turbulence«, in die Hand nehmen müssen. Ohne Wacquants bahnbrechende Diskursanalyse aber wird der konservative Rollback in den USA seit den späten 1970er Jahren kaum zu verstehen sein.

Loïc Wacquant: Die Erfindung der »Unterklasse«. Eine Studie zur Politik des Wissens. A. d. Engl. v. Christian Frings. Dietz-Verlag, 215 S., br., 25 €.

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