Kollektiv Signa: Die Simulation ist ausverkauft

Das Kollektiv Signa zeigt seine Performance-Installation »Das 13. Jahr« in Hamburg

  • Andreas Schnell
  • Lesedauer: 5 Min.
Ist die Trauer in den Augen echt? Ist die Zwiebel noch genießbar?
Ist die Trauer in den Augen echt? Ist die Zwiebel noch genießbar?

Nicht spielen – spüren sollen wir, gibt das Team der Firma Lethe Simulationswelten am Ende des kleinen Vortrags uns, 40 Menschen, mit auf den Weg, der durch einen langen kühlen Tunnel ins namenlose Nebeldorf führt, in dem wir die nächsten Stunden verbringen werden. Wir sind zwölf Jahre alt – so die Fiktion des Simulationsprogramms, in dem wir uns befinden. In Wirklichkeit ist die Firma Lethe, altgriechisch für »das Vergessen«, selbst eine Simulation, geschaffen von dem Kollektiv Signa, berühmt für seine performativen Installationen. Wer schon einmal eine Signa-Inszenierung besucht hat, ahnt, was geschehen wird: Das Publikum wird in eine andere Welt geführt, Beziehungen werden aufgelöst – wer mit Partner oder Partnerin kam, wird von ihm beziehungsweise ihr getrennt und in ein neues Umfeld versetzt. Für einen Abend, wenn nicht für eine ganze Nacht oder gleich mehrere Tage. Hat es alles schon gegeben bei Signa. Und bei »Wir Hunde«, 2016 in Wien, konnte man sich sogar auspeitschen lassen.

Bei Signa gibt es was zu erleben. Und so kommt man vor dem Tor des ehemaligen Thyssenkrupp-Areals in Hamburg, wo wir vor der Vorstellung warten, schnell ins Gespräch. Dort, in einer verlassenen Fabrikhalle, zeigt Signa derzeit »Das 13. Jahr«. »Deine wievielte ist das heute?«, fragt mich einer, der 2019 sogar bis nach Petersburg geflogen ist, um ein Stück der Gruppe zu sehen. Kein Wunder, dass die Vorstellungen von »Das 13. Jahr« in wenigen Minuten ausverkauft waren. Wer kein Glück im Vorverkauf hatte, kann höchstens an den Spielabenden am Fabriktor warten und hoffen, dass jemand nicht kommt. Das Deutsche Schauspielhaus, das »Das 13. Jahr« mit Signa produziert hat, warnt vor gefälschten Tickets.

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Zurück zum Nebeldorf. Wir Zwölfjährigen sind auf dem Weg zu einer Ferienlandverschickung in den Bergen havariert, der Nebel macht die Orientierung unmöglich. So geraten wir in jenes Dorf, streifen im Halbdunkel zwischen nachtgrauen Hütten umher, aus denen Maskengesichter starren. Was nun? Die Antwort nehmen uns ärmlich gekleidete Gestalten ab, die uns an die Hand nehmen und eilig in die Häuschen ziehen. Draußen ist feindlich. Beim Tee erfahren wir nach und nach mehr über den seltsamen Ort, dessen Bewohner und Bewohnerinnen vor drei Jahren auf ganz ähnliche Weise wie wir dorthin gekommen sind. Nur der alte Erwin war schon da ...

Ich lande mit drei weiteren aus dem Publikum in einer vierköpfigen Familie. Wo wir »Notkinder« flugs eingemeindet werden. Mutter Maryna und ihre drei Kinder, Sohn Darek und Tochter Daria (die kranke zweite Tochter ist eine Puppe) haben nicht viel, aber sie teilen es mit uns. Wir bekommen Tee, auch warme Kleidung – mit unserer mitgebrachten legen wir ein Stück Gewohnheit gewordene Erwachsenenidentität ab. Wir erfahren von verschwundenen und verbliebenen Dorfbewohnern, vom Handelsmann und der Hausiererin, als es plötzlich an die Tür bollert und Samuel hereinkommt, dessen Beziehung zu Maryna sich als explosiv, aber auch überraschend liebevoll erweist.

Was hat das alles zu bedeuten? So viel ist klar: Es ist eine Gesellschaft in Angst. Angst vor dem Außen, aber auch vor dem, was in den Menschen ist. Als der kleine Darek damit herausplatzt, er sei in Marius verliebt, staucht Mutter Maryna ihn zusammen, dass es eine Art hat. Sünde ist das! Man möchte ihn tröstend in den Arm nehmen. Und tut es. So wird man Teil der Dynamik dieser Inszenierung. Wie es bei Signa auf wundersame Weise immer wieder geschieht.

Die Dinge nehmen ihren Lauf. Zwei von uns müssen Samuel helfen, der vor unser aller Augen einen heftigen Zusammenbruch erleidet, weil er Marynas Gebete nicht erträgt. Die anderen dürfen mit Daria deren beste Freundin besuchen, die ein schaurig-schönes japanisches Liebeslied singt. Von dort geht es weiter in eine andere Hütte – und immer so weiter und immer wieder zu »unserer« neuen Familie zurück. Hier werden wir zum Kartoffelschälen und Geschirrspülen eingespannt, bis zum nächsten Abenteuer. Zum Beispiel Flaschendrehen mit der Dorfjugend – einschließlich der Aufforderung, einer der jungen Frauen an die Brüste (»unter dem T-Shirt!«) zu fassen oder den Penis zu zeigen. Was dann doch niemand tut. Zumindest nicht in meiner Konstellation.

Wer so viel erzwungene Intimität nicht aushält, darf die Simulation per Exit-Knopf anhalten, hat man uns vor dem Gang ins Nebeldorf erklärt. Niemand tut es allerdings an diesem Abend. Vielleicht weil die Sicherheit genügt, dass Aussteigen jederzeit möglich ist. Unterbrochen wird die Simulation gleichwohl regelmäßig, für Ansagen zur Tageszeit. Und einmal schaut eine Simulationsassistentin von Lethe bei uns für eine Feedbackrunde vorbei.

Am Ende der Simulation, nach immerhin rund fünfeinhalb Stunden, soll alles in einem Ritual gegen böse Geister kulminieren. Wir singen gemeinsam und ziehen um die Häuser. Darek fleht mich an, lauter zu singen. Kämpft er um das Funktionieren der Simulation? Oder der Simulation der Simulation?

Spätestens jetzt bin ich nicht mehr im Spiel. Weil der Zwölfjährige in mir einfach zu weit weg ist? Oder weil das ganzen Vorhaben mit seinem doppelten Boden der moderierten Simulation zu viel Distanz bringt? Sicher nicht zufällig haben wir ja schließlich im Lauf des Abends sogar die Kommandozentrale sehen können, wo hinter einer Scheibe hoch über dem Geschehen jener Mensch auszumachen ist, dessen Stimme wir immer wieder gehört haben. Die Nähte des Himmels, die Plastikberglandschaft – alles ist so offensichtlich Fake wie die Puppen, die leblos in den Ecken liegen und doch Teil der Dorferzählung sind.

Ist das »Das 13. Jahr« vielleicht gerade auf diese Weise gelungen? Als Nachempfindung der Erwachsenwerdung, der Entzauberung der Welt – wenn schon nicht gleich des Signa-Prinzips selbst? Meine leichte Enttäuschung über den Abend wäre dann eine perfide Pointe. Anderen ist es an diesem Abend gründlich anders ergangen. »Wahnsinn«, sagt ein Mann nach der Vorstellung. »Wahnsinn.« Routinierte SIGNA-Gänger vergleichen »Das 13. Jahr« mit »Die Ruhe«. »Zu detailverliebt«, sagt einer – man weiß es nicht.

Nächste Vorstellungen: 4., 8., 9. und 12. bis 15.12.

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