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- André Masson und Ernst Wilhelm Nay
Ausstellung »Mythos und Massaker«: Eine Zufallsbegegnung
»Mythos und Massaker«: Die Sammlung Scharf-Gerstenberg in Berlin lässt Ernst Wilhelm Nay auf André Masson treffen
Wer interessante Gespräche bei der Abendgesellschaft hören will, setze zwei völlig unterschiedliche Personen nebeneinander, sagen wir: einen Bestatter und einen Bademeister. Dann wird der Bademeister vielleicht preisgeben, dass bei ihm auch mal einer abgesoffen ist, und der Bestatter wird verraten, dass er nicht schwimmen kann. So ungefähr stelle man sich die Doppelausstellung von André Masson (1896–1987) und Ernst Wilhelm Nay (1902–1968) in der Berliner Sammlung Scharf-Gerstenberg vor.
Die beiden Künstler sind sich nie begegnet, haben sich nicht oder höchstens am Rande wahrgenommen und waren sich so fremd, wie sich nur zwei Leute fremd sein können, die zufällig zur selben Zeit gelebt haben. Doch gerade weil er nun neben einem Fremden hockt, zeigt sich der Nay in einem völlig ungewohnten Licht. Von ihm kennt man meist das, was ihn in der Nachkriegszeit berühmt gemacht hat: »Scheiben«, »Rhythmen«, »Figurationen«, unverbindliche Abstraktionen, die sich der fortschrittliche Bundesbürger gern ins Büro hängte. Dass der Mann auch eine surrealistische Phase hatte, mythologische, teils schmerzliche Themen aufgriff, ist weitgehend vergessen, muss nun aber zutage treten, da er auf Masson trifft, der bekanntlich Surrealist war und nicht selten mythologische, schmerzliche, ja quälende Themen bearbeitet hat.
Aber, unter uns gesagt, das Museum ist arm und hätte sich den späten Nay ohnehin nicht leisten können. Der frühe befindet sich jedoch im Depot und ließ sich leicht mit anderen Künstlern kombinieren. Da man das nicht »Zufällige Begegnung eines Franzosen und eines Deutschen auf einem Seziertisch« nennen wollte, nannte es die Kuratorin Kyllikki Zacharias »Mythos und Massaker«. »Mythos« ist klar, und »Massaker« leitet sich von der einzigen prominenten Leihgabe ab, dem Gemälde »Massacre« (1931) von Masson, das die Kuratorin überhaupt erst auf die Idee zur Ausstellung gebracht hat. Denn da sie mit Nay wohlvertraut ist, fühlte sie sich gerade von diesem Bild an ihn erinnert. Auch das hat etwas Willkürliches.
»Massacre«, eine stark stilisierte Komposition, die leuchtende Farben vor allem aus dem Gelb- und Orangespektrum in flächigen Kompartimenten zusammenstellt und in halbkreisförmigen Schwüngen vibrieren lässt, hätte ebenso gut, ja viel besser an Otto Freundlich anknüpfen können. Die Farbigkeit hat etwas Orphisches, erinnert also entfernt auch an das Ehepaar Delaunay. An ein Massaker erinnert das Bild dagegen eher wenig, es sei denn, das Massaker wäre von Ridley Scott inszeniert, in dessen »Napoleon« ebenfalls blutige Leiber durch die Luft wirbeln. Aber sind sie hier überhaupt blutig? Zwar sind Körper, darunter ein weiblicher, eindeutig zu erkennen, sie verbinden sich aber eher tänzerisch als taumelnd, eher lebendig als sterbend miteinander.
Das berührt seltsam. Masson war ein Vitalist, er zog, wie Guillaume Apollinaire, der Erfinder des Orphismus, freudig in den Ersten Weltkrieg, wurde aber schwer verwundet. Wenn »Massacre« sich also auf den Krieg bezöge, dann wäre Masson, wie Jean Paulhan formulierte, ein »beflissener Soldat« gewesen, der sich auch von einem Granatsplitter nicht hat belehren lassen. In unserer Zeit, in der sich Künstlerinnen und Künstler vor jeder Ausstellung einer peinlichen Gewissensprüfung unterziehen müssen, schockierte dieses Ergebnis, und das Museum müsste sofort wegen Kriegsverherrlichung geschlossen werden.
Doch es könnte auch alles ganz anders und »Massacre« nur ein anderes Wort für »Karambolage« sein. Dann wäre das Lebensgefühl vieler Zeitgenossen getroffen, die wie die Futuristen, die Expressionisten oder die Kubisten unter dem Eindruck von Großstadt, Maschinen, physikalischen Entdeckungen, also der explosiven Entwicklung der Produktivkräfte, standen.
Was ist, da es mit dem »Massaker« nicht viel ist, nun mit dem »Mythos«? Steht der Mythos nicht klassischerweise gegen den Eindruck der beschleunigten und katastrophischen Moderne? Einerseits ja. Andererseits hält der Mythos ein kollektives Erleben fest, das, je mehr es von der Atomisierung der kapitalistischen Gesellschaft zertrümmert wird, in der Kunst, übrigens gerade in der allerneuesten Kunst, fröhliche Urständ feiert. Es ist dann ein durchaus moderner Mythos.
Nay, der neben Masson immer etwas behäbig wirkt, malte 1946 die bekannte Szene der Verfolgung von Daphne durch Apollon zwar wie in der Tradition – Daphne verwandelt sich, um sich zu retten, bereits in einen Baum –, doch zergliedert er die Bewegung kubistisch und lässt Apollon mit dem Hintergrund verschmelzen. Ja, es scheint, nicht nur Daphne, auch Apollon verwandelte sich gerade.
Nays »Tochter der Hekate« (1945) – gemeint ist die »Jüngere Hekate«, also Iphigenie – hat die ursprüngliche Figur einer Frau mit erhobenen Händen (Iphigenie bei ihrer Opferung) derart abstrahiert, dass nur noch Bruchstücke, Körperfragmente, vor allem Augen, hauptsächlich in Dreiecksformen, zu sehen sind. Das heißt, der Mythos ist hier keine Erzählung mehr, sondern die Auflösung aller Erzählung, er bietet keine Figuren, sondern die Zerstückelung der Figur. Das alte, kollektive Wissen steht noch dahinter, aber es hat seine Kraft bereits verloren. Der moderne Mythos ist der Mythos der Abwesenheit.
Wie nun über diese teils verstörenden Funde hinaus in die Zukunft weisen? Hier macht es sich die Ausstellung allzu leicht. Sicher freut man sich immer über einen Asger Jorn, aber mit Georg Meistermann und Theodor Werner noch weitere Zeitgenossen, die entfernt Ähnliches produziert haben, hinzuzugesellen, wirkt mutlos. Gibt es keine jüngeren Künstlerinnen und Künstler, wenn nicht im eigenen Depot, dann in dem der Nationalgalerie? Nun ja, sehen wir es ein, Schmalhans ist vorerst Küchenmeister, und bis wir alles gesehen haben, was noch in den Berliner Magazinen ruht, stellt sich vielleicht ein Sponsor ein, da der Staat sein Geld lieber in Waffen investiert.
»Mythos und Massaker. E. W. Nay und André Masson«, bis 28.4.2024, Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin.
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