»Fabian« von Erich Kästner am Theater: Die Zeit ist viel zu groß

Philipp Arnold inszeniert Erich Kästners »Fabian« am Münchner Volkstheater

  • Dorte Lena Eilers
  • Lesedauer: 4 Min.
Mit Masken im Rotlicht: Moralist Fabian (Anton Nürnberg) lebt in bewegten Zeiten.
Mit Masken im Rotlicht: Moralist Fabian (Anton Nürnberg) lebt in bewegten Zeiten.

Dr. Jakob Fabian dreht dem Krieg den Rücken zu. Er, der in seinen eleganten weißen Hosen bislang durch das Stück getänzelt ist, steht nun, starr zur Seite stierend, dem Publikum abgewandt. Er scheint zuzuhören, will aber nichts sehen. Keinen Rauch. Keine Bomben. Keine Eindrücke vom Morgen des 24. Februar 2022. Er steht da, als hätte er mit dem Schrecken, welchen das Ensemble an der Rampe schildert, nichts zu tun, bleibt stumm.

Mal vertuscht Schweigen pure Kaltherzigkeit. Mal ist es die einzige Möglichkeit zu überleben – wie im Fall von Erich Kästner, Autor des Romans »Fabian oder Der Gang vor die Hunde«. Statt ins Exil zu gehen, blieb er während der gesamten Nazizeit in Deutschland, sah bei der Verbrennung seiner als »undeutsch« diffamierten Bücher zu, während er unter Pseudonym im Unterhaltungsgenre weiterarbeitete. Das Schweigen, schreibt ZEIT-Redakteur Peter Neumann in einer Rezension zu Dominik Grafs Filmessay »Jeder schreibt für sich allein«, habe man Kästner zeitlebens angesehen: »Dieses Geduckte, Gedrungene, das Aufgestaute, das irgendwann kein Ventil mehr findet, sondern absinkt, schwer wird, wie geronnene Lava.« Ist Dr. Fabian Jakob ein Alter Ego Kästners? Das legen viele Interpretationen nahe, auch die Inszenierung von Philipp Arnold am Münchner Volkstheater.

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Fabian (Anton Nürnberg) ist zu Beginn des Abends ein unbeschriebenes Blatt. Sehr jugendlich, sehr blond und in sehr weißer Kleidung tollt er mit seinem Kumpel Labude (Pascal Fligg) über den »Rummelplatz« Berlin, durch Bars, Nachtclubs, Bordelle Anfang der 1930er Jahre. Oder, Ende der 1910er Jahre? Anfang der 2020er? Philipp Arnold und Dramaturgin Hannah Mey haben aus Kästners »Fabian« eine Spielfassung erstellt, die Raum lässt für Zeitsprünge in Form eingefügter Fremdtexte. Arna Aley (gebürtig aus Litauen), Viktor Martinowitsch (Belarus) und Maryna Smilianets (Ukraine) haben, wie es im Programmheft heißt, literarisch auf Kästners Werk »reagiert«. Während »Fabian« in der Zeit der Weimarer Republik spielt, als vielen Menschen der Erste Weltkrieg leibhaftig noch in den Knochen steckte, konfrontieren uns Martinowitsch und Smilianets in autobiografisch grundierten Texten mit der Realität des heutigen Krieges in der Ukraine. Lauter Parallelerzählungen also, die inszenatorisch bewältigt werden wollen.

»Die Zeit ist viel zu groß, so groß ist sie. / Sie wächst zu rasch. Es wird ihr schlecht bekommen. / Man nimmt ihr täglich Maß und denkt beklommen: / So groß wie heute war die Zeit noch nie.« Mit diesen Zeilen aus Kästners Gedicht »Große Zeiten« erhält die Inszenierung einen zeitlosen Rahmen. In welcher Epoche des 20. und 21. Jahrhunderts dachte man nicht: Schlimmer kann es kaum noch kommen? Die Bühne (Viktor Reim), die mit ihren Gerüstaufbauten und dem abgehängten Rundhorizont ein wenig an die Berliner Volksbühne unter Frank Castorf erinnert (welcher »Fabian« 2021 am Berliner Ensemble inszenierte), lässt der nun folgenden postdramatischen Montagearbeit freien Lauf.

Umflimmert von Großstadtszenen der 1930er Jahre, die munter übermalen, welch autoritäre Kräfte im Gefolge der Hyperinflation bereits heraufzogen (Video Sebastian Pircher), starten Fabian und Labude ihr Gerangel um gesellschaftspolitische Positionen. Erst den Menschen verändern oder erst das System? Labude, der Aktivist, steht für ein revolutionär linkes Programm: »Es ist unsere Aufgabe, den Kontinent zu reformieren.« Dem Moralisten Fabian geht es um Anstand und Vernunft. »Was nützt das System, solange der Mensch ein Schwein ist?«

Ja, was nutzt es? Da der Mensch in Ausnahmesituationen nur eingeschränkt vernunftbegabt ist, bleibt Fabian lediglich das verstörte Beobachten – und Schweigen. Auf einer immer karger werdenden Bühne, als würden die Textinterventionen aus der Ukraine und Belarus die Großstadtatmosphäre verdrängen, wird er immer mehr zum Zaungast. Bis Irene Moll, Kästners Männerbordell-Betreiberin (Nina Steils), alle »Abgedrifteten« mit einem munteren »Klapps auf den Popo« in die Realität zurückholt.

Ab hier beginnt der furiose Teil der Inszenierung. Wechselten sich zuvor Kästners Romansound mit Martinowitschs und Smilianets’ »Augenzeugenberichten« eher holprig ab, nimmt das Ensemble bei Arna Aleys literarischem Beitrag an Fahrt auf. In grotesken Kostümen aus Kristalllüster-Hüten, Blumenbouquet-Ärmeln und Narrenjäckchen (Julia Dietrich) wird ein Grüppchen Erzgebirgsbahn-Reisender erbarmungslos aus Tagträumereien gerissen. Aus einer »Realitätsverweigerung«, wie Aley schreibt, »die zum Mainstream geworden« ist.

»Es ist immer einfacher, vor dem, was man nicht bewältigen kann, die Augen zu verschließen«, heißt es in Smilianets’ Schlussmonolog. Aber stimmt die Diagnose? Herrscht denn Schweigen angesichts des Krieges in der Ukraine? An wen richtet sich die Anklage? Hierin bleibt die Inszenierung unscharf. Dominik Graf, der 2021 eine geniale Filmversion des »Fabian« schuf, konzentrierte sich ganz auf seinen Protagonisten (Tom Schilling), zeichnet ihn als einen Menschen, der seiner Zeit nicht gewachsen war, weil er zu sehr an die Vernunft glaubte. Er ertrinkt. Der Münchner Abend hingegen endet mit einer Bitte: »Lernt schwimmen!« Sie richtet sich an alle und jeden.

Nächste Vorstellungen: 22.12., 23.12., 7.1., 30.1.

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