Die Reichsbürger sind unter uns. Manche ihrer Kinder nicht

Erste Familien im Reichsbürgermilieu kapseln ihre Kinder gänzlich von staatlichen Strukturen ab. Wie soll der Staat damit umgehen?

  • Sebastian Haak, Thüringen
  • Lesedauer: 8 Min.

Wälder und Felder reihen sich in diesem Landstrich, südlich des Thüringer Rennsteigs, im schönen Wechsel aneinander. Die Kirchen, die hier stehen, sind gepflegt. Ebenso viele Häuser, Garagen und Gärten, in die ihre Besitzer in den vergangenen Jahren erkennbar viel Arbeit und Geld investiert haben. Vielleicht umso mehr, weil nicht Wenige in dieser Region der Meinung sind, ihre Immobilien lägen überhaupt nicht in der Bundesrepublik Deutschland, sondern auf ganz besonderem Boden. Jedenfalls glauben diese Männer und Frauen, hier, wo sie ihr Zuhause haben, würden die Gesetze deer Bundesrepublik Deutschland nicht gelten.

Hinter nicht wenigen dieser Häuserfassaden wohnen Menschen, die die Mehrheit in Deutschland als Reichsbürger bezeichnet. Der deutsche Staat hat sich für sie bürokratischere Formulierungen ausgedacht hat: Selbstverwalter und Souveränisten sind nur zwei davon.

Überall in Deutschland gibt es Reichsbürger. Seit Jahrzehnten schon. Doch dass Landstriche wie diese hier so durchsetzt von ihnen sind, kommt nicht allzu häufig vor. Auf einer Fläche von wenigen Dutzend Quadratkilometern fänden sich hier mindestens 50 Reichsbürger, sagen Menschen übereinstimmend, die diese Region gut kennen und mit ihnen umgehen müssen. In dem Landkreis, zu dem diese Region gehört, hat das zuständige Landratsamt ungefähr 200 Reichsbürger gezählt.

Wobei keiner der Zählenden davon ausgeht, dass damit alle Reichsbürger erfasst wären, die hier leben. Jede dieser Zahlen birgt auch die Unsicherheiten in sich, die seitens des Staates zum Milieu bestehen.

Längst nicht jeder, den das zuständige Landratsamt auf seiner Reichsbürgerliste hat, sei gleich tief in die wirre und heterogene Gedankenwelt dieser Szene verstrickt, heißt es aus der Behörde. Bestimmt seien manche, die da mitgezählt werden, vor mehreren Jahren das letzte Mal als Reichsbürger aufgefallen. Ob sie noch in der Szene aktiv seien, sei nicht klar, sagt jemand, der diese Liste kennt. Gleichzeitig kämen immer wieder neue Namen auf diese Liste, nachdem sich Menschen als Reichsbürger zu erkennen gäben. Bislang würden staatliche Stellen höchstens 50 bis 60 Prozent der Reichsbürger in diesem Landkreis kennen, schätzt eine Frau, die als eine der besten Kennerinnen der lokalen Szene gelten darf.

Wer sind die Reichsbürger?

Als Reichsbürger werden Menschen bezeichnet, die – aus ganz verschiedenen Motiven – die Existenz der Bundesrepublik Deutschland leugnen. Dazu, in welchem Staat sie stattdessen zu leben glauben, gibt es innerhalb dieses Milieus unterschiedliche Ansichten. Die Vorstellung, das Deutsche Reich bestehe noch immer fort, ist noch die einfachste der dabei vertretenen Thesen.
 
Als Reichsbürger waren jahrelang vor allem ältere Männer aufgefallen. Oft wollten sie zumindest zunächst etwa Bußgelder oder Steuern nicht zahlen. Um solchen Zahlungspflichten angeblich zu entgehen, sponnen sie sich schein-juristische Argumentationen zusammen, die immer zu dem Pseudo-Ergebnis kamen, der deutsche Staat habe kein Recht, von ihnen irgendwelche Gelder zu fordern. Insbesondere während der Corona-Proteste glitten auch mehr Frauen in diese Szene ab, die sich radikalisierte. Mit wirren Behauptungen versuchten Reichsbürger während der Pandemie zum Beispiel zu begründen, warum der deutsche Staat ihnen keine Maskenpflicht auferlegen könne.
 
Das Reichsbürgermilieu ist stark vom Glauben an Verschwörungserzählungen aller Art geprägt – und überdurchschnittlich waffenaffin. Ein Beispiel: Im Dezember 2022 hatte die Bundesanwaltschaft eine Reichsbürgerzelle um Heinrich XIII. Prinz Reuß ausheben lassen, die im Verdacht steht, einen Staatsstreich geplant zu haben. Die Ermittler hatten bei der Gruppe Hunderte Schusswaffen, Zehntausende Schuss Munition sowie Hunderte Hieb- und Stichwaffen gefunden.
 
Zwischen den Milieus von Reichsbürgern, Rechtsextremisten, Rechtspopulisten und Querdenkern gibt es starke Überschneidungen.

So ungenau beide Schätzzahlen – die 50 und die 200 – aber auch sind: Bemerkenswert sind diese Angaben dennoch. Denn sie weisen eindringlich auf eine aktuelle Entwicklung im Reichsbürgermilieu hin, die Deutschland auf Jahre, wenn nicht sogar Jahrzehnte beschäftigen wird. Mit bislang unabsehbaren Folgen.

Wenn in einer einzigen, kleinen, eng umgrenzten Region ungefähr 50 Reichsbürger leben, dann ist das ein wichtiger Hinweis darauf, dass es inzwischen nicht nur einzelne alte, weiße Männern sind, die sich als Reichsbürger verstehen. Sondern dass sich ganze Familien in diese entsprechende Gedankenwelt verstrickt haben; also auch Frauen. Und damit: Kinder.

Um zu begreifen, was das bedeutet, muss man sich nur ansehen, was hier staatlichen Stellen vor einiger Zeit schon aufgefallen ist: Dass es mindestens zwei Familien gibt, in denen in den vergangenen Jahren Kinder geboren worden sind, von denen der Staat über Jahre hinweg gar nichts wusste. Von denen er bis heute kaum etwas weiß. Die für ihn im Grunde genommen gar nicht existieren.

Mindestens eines dieser Kinder erblickte bei einer Hausgeburt das Licht der Welt. Die Mutter ließ sich dabei von einer Hebamme unterstützen, die ebenfalls der Reichsbürgerideologie anhängt. Echte staatliche Geburtsurkunden gibt es für diese Kinder nicht. Dafür Urkunden, die sich die Reichsbürger selbst ausgedacht haben. In Kindergärten gehen diese Kinder bis heute nicht.

Sowohl im Speziellen als auch im Allgemeinen habe die Entwicklung der Reichsbürgerszene damit eine völlig neue Dimension erreicht, sagt der Sprecher der Demokratieberater von Mobit, Felix Steiner, der das Milieu bundesweit seit Jahren beobachtet. Die Corona-Proteste, sagt er, hätten mehr Menschen in die Szene hingezogen, während sich die, die dort schon zuvor aktiv gewesen waren, immer weiter radikalisiert hätten. »Inzwischen sehen wir, dass sich Reichsbürger eigene Strukturen schaffen wollen, wozu sie versuchen, ihre Kinder aus staatlichen Strukturen herauszuhalten.« Auch die Gründung von Reichsbürgerschulen sei zuletzt schon versucht worden, »um die Kinder gezielt aus staatlichen Einrichtungen heraushalten«, sagt Steiner.

Für die betroffenen Kinder ist diese Entwicklung hochproblematisch, bisweilen sogar gefährlich. Wenn Reichsbürgereltern so radikal seien, dass sie ihre kleinen Kinder nicht registrieren ließen, sei die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sie diese auch nicht zu wichtigen Vorsorgeuntersuchungen bringen, so Steiner. Selbst dann nicht, wenn – wie in einem Fall geschehen – eine Krankenkasse eine Fantasie-Reichsbürgerurkunde als Geburtsnachweis akzeptiert und eines der Kinder krankenversichert hat. Ganz zu schweigen davon, dass die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass solche Kinder niemals geimpft und nicht einmal im Akutfall angemessen medizinisch versorgt werden. »Wir reden hier von einer Szene, in der Verschwörungserzählungen stark verbreitet sind. Da gibt es zum Beispiel diesen Glauben, dass Krebs nicht existiere oder dass man Krankheiten heilen könne, wenn man nur ganz fest an bestimmte Sachen glaubt«, sagt Steiner.

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Wenn Jugendämter davon erfahren, dass Kinder in Reichsbürgerfamilien geboren werden, leiten zumindest manche von ihnen deshalb regelmäßig Verfahren wegen des Verdachts auf Kindeswohlgefährdung ein. Auch in dem Landstrich mit den Wäldern und Feldern ist das in mindestens einem Fall passiert. Inzwischen ist dieses Verfahren jedoch wieder eingestellt worden. Grund: Dem betroffenen Kind geht es laut den Recherchen des verantwortlichen Landratsamtes, in dem das zuständige Jugendamt angesiedelt ist, gut. Das Kind bekommt nach allem, was die Behörde feststellen konnte, ausreichend Essen und Trinken. Es wird weder vernachlässigt oder misshandelt.

Das Kinderschutzverfahren, das bei diesem Landratsamt geführt worden ist, wirft gerade wegen seines Ausgangs ein grelles Licht darauf, vor welch großen Herausforderungen der deutsche Staat und die deutsche Gesellschaft – also wir alle – im Umgang mit solchen Reichsbürgerfamilien und den dort beheimateten Kindern schon heute stehen. Und in absehbarer Zukunft noch viel mehr stehen werden.

Zunächst ist da eine ethische Frage, die die Gegenwart betrifft. »Da steht natürlich immer die Frage im Raum: Stellt das Reichsbürgerdasein automatisch eine Kindeswohlgefährdung dar mit der Konsequenz, dass das Kind aus der Familie genommen werden muss?«, sagt eine Vertreterin des Landratsamtes. Meint: Ist es wirklich so, dass Eltern, die einer wirren Ideologie anhängen, zwangsläufig schlecht für ihre Kinder sorgen? Nein, so einfach ist es nicht. In den Worten der Vertreterin des Landratsamtes: Es sei doch ziemlich offen, ob man einem so betroffenen Kind »einen Gefallen tut«, wenn man es aus einer im Kern intakten Familie herausnimmt, »wenn es dem Kind – wie hier – eigentlich gut geht«.

Zudem gibt es rechtliche Fragen, die ebenfalls die Gegenwart betreffen: »Wie können wir als Amt den Sorgerechtsentzug einer Mutter für ein Kind beim Familiengericht anregen, das es eigentlich nach deutschem Recht gar nicht gibt?«, sagt die Vertreterin des Landratsamtes. »Im Grunde wissen wir ja nicht mal sicher, ob dieses Kind wirklich zu dieser Mutter gehört.« Alles in allem sei es so: »Das ist ein ganz großes Dilemma, in dem wir derzeit stecken.«

Allerdings – und das ist sowohl auf einer allgemeinen als auch auf einer speziellen Ebene von Bedeutung – werden aus Kindern, die in abgeschotteten Reichsbürgerfamilien aufwachsen, irgendwann Jugendliche und Erwachsene, die – anders als die allermeisten Reichsbürger der vergangenen Jahrzehnte – niemals in einer anderen als einer verqueren Welt gelebt haben. Was zu Problemen führt, die weit in die Zukunft reichen.

Zum Beispiel diesen hier: Wie sollen sich diese Kinder spätestens im Erwachsenenalter in einem Deutschland zurechtfinden, dessen Existenz zu leugnen sie von Kindesbeinen an gelernt haben? Wie groß ist die Gefahr, dass diese Kinder von heute in 20 oder 30 Jahren als eigenständige Reichsbürger der Zukunft einen besonders entschlossenen Kampf gegen »das System« führen werden? Wie werden diese Kinder von heute ihre, die Kinder von übermorgen erziehen?

So groß und umfassend sind die Fragen, dass weder Steiner noch die Vertreterin des für diesen Landstrich zuständigen Landratsamtes, noch alle anderen, die diese lokale Reichsbürgerszene gut kennen, derzeit sagen können, wie die richtigen Antworten auf diese Fragen ausfallen müssten.

Sie alle sind sich lediglich ganz sicher, dass es bald noch häufiger vorkommen wird, dass staatliche Stellen Kinder quasi zufällig entdeckt werden, die in Reichsbürgerfamilien geboren worden sind, die aber bislang nie irgendwo registriert wurden. Und das in einem Deutschland, das sich schon im Umgang mit erwachsenen Reichsbürgern ausgesprochen schwer tut. Und das, sagt Steiner, wo doch die Gefahr, dass Dinge völlig außer Kontrolle geraten, besonders hoch sei, wenn die staatliche Drohung im Raum stehe, Kinder aus Familien herauszunehmen. »Da müssen wir mit militanter Gegenwehr der Szene rechnen«, sagt er.

Für all jene, die mit Reichsbürgern zu tun haben – von Polizisten auf der Straße über Sachbearbeiter an Schreibtischen bis hin zu Sozialarbeitern – und natürlich auch für die betroffenen Kinder selbst, wird das Leben in den nächsten Jahren also noch gefährlicher als zuletzt schon.

Es gibt deshalb überhaupt gar keinen Grund, Reichsbürger als das abzutun, als was sie jahrelang dargestellt wurden: als harmlose Spinner von nebenan. Nicht nur Einzelne von ihnen sind so entschlossen, ihrer Ideologie so vehement zu folgen, dass sie ihren Kindern verwehren, unter uns zu leben.

Diesem Text zu Kindern, die in Reichsbürger-Familien aufwachsen, gingen wochenlange Recherchen voraus. Für die Veröffentlichung haben wir uns aus einem zentralen Grund entschieden, nicht einmal die Region genauer zu identifizieren, in der es eine so ungewöhnlich hohe Ansammlung von Reichsbürgern gibt – und schon gar nicht die Familien näher zu beschreiben, die in dieses Milieu verstrickt sind: Es geht um den Schutz der teilweise noch sehr kleinen Kinder, die in den betroffenen Familien leben.

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