Necati Öziri: Wie man eine Kartoffel wird

Sind wir alle nur »alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter«? »Vatermal«, der starke Debütroman von Necati Öziri

  • Tom Wohlfarth
  • Lesedauer: 5 Min.
Warten, warten, warten – in der Kleinstadt und in der Jugend. Die Frage ist nur: worauf?
Warten, warten, warten – in der Kleinstadt und in der Jugend. Die Frage ist nur: worauf?

Es ist eine fast kafkaeske Szenerie, die der Germanistikstudent Arda in Necati Öziris Debütroman »Vatermal« in einem Brief an seinen abwesenden Vater Metin schildert. Er erzählt von den immer gleichen Besuchen auf dem Ausländeramt, vom stundenlangen Warten auf überfüllten Fluren, nur um nach den immer gleichen, stets nur in der dritten Person stattfindenden Amtsgesprächen immer weiter auf den nächsten Termin warten zu müssen. Oder wie es bei Kafka heißen könnte: Arda und seine Schwester mussten etwas falsch gemacht haben, denn obwohl sie hier geboren waren, zur Schule gingen und ihre Mutter hier arbeitete, bekamen sie keinen deutschen Pass. Nur dass sie leider auch keinen türkischen haben, weil ihr Vater dort politisch verfolgt wurde.

Die Ausweislosigkeit ist ein passendes Bild für alle Menschen mit Migrationserfahrung, die es immer schwerer haben, irgendwo dazuzugehören – egal, ob sie gar keinen Pass haben oder gleich sieben wertlose, wie Ardas Freund Bojan, der mit seiner Mutter aus Jugoslawien geflohen ist. Und es ist ein passendes Bild für diese Nichtzugehörigkeit, dass der Erzähler Arda mit einer Autoimmunkrankheit im Sterben liegt, also nicht einmal sein eigener Körper ihn selbst erkennt.

Da hilft nur das Erzählen. Damit Metin nie in die Lage gerät, so wenig über seinen toten Sohn zu wissen, wie dieser über ihn, schreibt Arda ihm sein Leben ohne ihn auf. Und verschränkt damit auch das, was ihm im Krankenhaus seine Mutter Ümran und seine Schwester Aylin erzählen, die nicht mehr miteinander reden, seit Aylin vor zehn Jahren von zu Hause weggelaufen ist.

Ümran kam als Kind mit ihrer Familie aus der Türkei nach Deutschland, nachdem sie bei einem schweren Erdbeben alles verloren hatten und bald stirbt noch der Vater. Irgendwann lernt sie Metin kennen, der nach dem Militärputsch aus der Türkei geflohen ist, weil er den Tod seines Bruders gerächt hat. Sie wird schwanger, heiratet, fängt kurz nach Aylins Geburt an, bei McDonalds zu arbeiten, weil Metin ihr gesamtes Erspartes verspielt hat. Als sie mit Arda schwanger ist, verlässt der sie und geht zurück in die Türkei, weil er einem Leben als Exilant und Fleischereiarbeiter sogar das Gefängnis vorzieht.

Ümran fängt an zu trinken, entfremdet sich von ihrer Tochter, die zur Oma abgeschoben wird. Nachdem die Mutter sie geschlagen hat, haut Aylin endgültig ab, lebt bei verschiedenen Pflegeeltern, wird durchs Leben getrieben, bis sie irgendwann ausgerechnet mit einer Polizistin ihr Lebensglück findet.

Für Arda scheint das völlig abwegig, lebte er doch die meiste Zeit auf Konfrontationskurs mit dem Gesetz, während er passlos mit seinen Kumpels auf dem Bahnhofsplatz seiner Kleinstadt hockte und Drogen vertickte. Hier findet sein Text seine stärkste Stimme, wenn er mit seinem »akzentfreien Ich« vom letzten Sommer mit seinen Freunden erzählt, wo sich die Rassismuserfahrungen einer fragilen migrantischen Männlichkeit in bitterer Armut mit den einfachen Freuden eines Kleinstadtlebens verbinden und sich zum letzten Mal in der Unschuld einer Jugendfreundschaft aufgehoben wissen.

Arda erzählt von Savaş, seinem ältesten Kindheitsfreund und Sohn eines Genossen von Metin. Er ist häufig auf Krawall gebürstet und geht nach einem Unglücksfall in die Türkei. Danny wiederum ist zwar »eine stinknormale Kartoffel, nur halt mit einer kaputten Mutter, und das macht ihn ein bisschen zum Kanaken«. Er wird viel zu früh Vater und folgt seiner Geliebten nach Polen. Bojan schließlich hat nicht nur sieben Pässe (keiner davon deutsch), sondern spricht auch sieben Sprachen. Nachdem er vor einem Nachtclub zusammengeschlagen wird, werden er und seine Mutter abgeschoben.

In der wie beiläufigen Schilderung großer Dramen, kleiner und mittlerer Gangster, heimlicher Dates und planlosen Rumhängens überschlägt sich regelmäßig der ansonsten nüchtern beobachtende Erzählton und bekommt die Dringlichkeit, die der Klappentext verspricht. Das sind dann auch die Momente, in denen in der Hörbuchfassung Sprecher Eray von Ergilmez mit seinem warmen Bariton besonders genüsslich in den gehobenen Straßensound mit reichlich türkischen Versatzstücken eintaucht.

»Vatermal« war einmal ein Theatertext, den Öziri unter dem Titel »Get deutsch or die tryin’« für das Berliner Maxim-Gorki schrieb. Dessen Romanwerdung bis hin zur Nominierung für den Deutschen Buchpreis (Shortlist) ist ein ungewöhnlicher Weg, meist nehmen die Texte ja die andere Richtung.

»Vatermal« ist auch ein gutes Gegenstück zu Özge İnans Debüt »Natürlich kann man hier nicht leben«, das die Schicksale der türkischen Intellektuellen nach dem Militärputsch und vor der Emigration erzählt. Während die Protagonisten bei İnan stets eine erstaunliche Souveränität über ihre Lebenswege bewahren, erscheinen die Figuren in »Vatermal« viel mehr als Getriebene, so wie auch – frei nach Goethe – »wir alle auf dieser Welt nur beschissene Gastarbeiter sind«.

Es ist ein wilder, weiter Weg, bis Arda an seinem 18. Geburtstag endlich Anspruch darauf hat, »officially Kartoffel« zu werden, und sich das kafkaeske Ausländeramt in abenteuerliche Komik auflöst. Doch auch als deutscher Student, dafür steht die Krankheit, wird sein Leben prekär bleiben. Mehr noch als durch die Blutplasmapherese darf er hoffen, es im Erzählen zu gewinnen.

Necati Öziri: Vatermal. Claassen, 308 S., geb., 25 €.

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