- Kultur
- Biografie
Harry Rowohlt: »Gottes Segen und Rot Front!«
Ein Leben zwischen Dichtung, Wahrheit und Übersetzungen: Alexander Solloch hat eine Biografie über Harry Rowohlt geschrieben
»Geschichten waren das Wertvollste, was er hatte«, heißt es in der Biografie über Harry Rowohlt. »Ein freies Leben« hat Alexander Solloch, Literaturredakteur beim NDR, das Buch genannt, das kürzlich beim Schweizer Verlag Kein & Aber erschienen ist, der auch einige von Rowohlts Werken im Programm hat. Am 15. Juni hatte er zehnten Todestag.
Auf dem Titel der Biografie sieht man Harry Rowohlt, den begnadeten Geschichtenerzähler, eine Zigarette ragt aus dem Karl-Marx-Gedächtnis-Rauschebart heraus, die dunklen Augen schauen über den Rand der Nickelbrille in die Ferne. So kennt man den 2015 verstorbenen Autor und Übersetzer, ob von einer seiner legendären Lesungen (»Schausaufen mit Betonung«) oder aus der Fernsehserie »Lindenstraße«, als prägenden Übersetzer (»Verfatz dich!«) oder Liebhaber der alkoholischen Ausschweifung. Aber kennt man auch Rowohlts bewegtes Leben?
Rowohlt verbarg sein Leben nicht vor der Öffentlichkeit, sondern breitete es im Gegenteil in Hunderten von Anekdoten und Geschichten aus. Das Wertvollste behielt er nicht für sich, sondern teilte es im christlich-kommunistischen Sinne (»Gottes Segen und Rot Front!« war eine geläufige Grußformel in seinen Briefen, die er zu einer eigenen, in mehreren Bänden dokumentierten Kunstform erhob). Für einen Biografen wie Solloch liegt die Herausforderung also nicht darin, Verborgenes ans Tageslicht zu bringen – da kann er nur mit einer bisher unbekannten Liebe zum HSV punkten, dessen Abstieg aus der Bundesliga Rowohlt nicht mehr miterleben musste und dem dieses Frühjahr tatsächlich der Wiederaufstieg gelungen ist –, sondern Rowohlts Selbstauskünfte (wie »In Schlucken-zwei-Spechte« gegenüber Ralf Sotscheck) zu ordnen und zu befragen. Rowohlt war nämlich jemand, den man in der Literaturwissenschaft einen unzuverlässigen Erzähler nennt.
Bekanntlich war Rowohlt der Auffassung, eine gute Geschichte solle nicht durch ein Übermaß an Faktentreue verdorben werden. Und so waren auch die Geschichten, die er über sein Leben erzählte, eine literarische Schöpfung zwischen Dichtung und Wahrheit. Solloch, und das zeichnet ihn aus, nimmt diese Geschichten als Material, nicht für die ganze Wirklichkeit des historischen Geschehens, und spricht ihnen jedoch umgekehrt eine eigene Wirklichkeit nicht ab. Rowohlts Leben war ein erzähltes Leben – und deswegen wohl auch ein freies, das sich nicht sprachlos dem stummen Zwang der Verhältnisse unterwarf. Solloch stellt Rowohlts Selbsterzählungen zahlreiche weitere Geschichten an die Seite, die er in Gesprächen mit Rowohlts Frau Ulla, mit Freunden und Weggefährten oder aus dem Nachlass geborgen hat. So entsteht ein eigenes Bild.
Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.
In sechs Kapiteln schildert Solloch, wie Rowohlt – kurz vor Kriegsende 1945 als unehelicher Sohn der Schauspielerin Maria Pierenkämper und des berühmten Verlegers Ernst Rowohlt (die später heirateten) geboren – sich letztlich zwar erfolgreich, aber nicht ohne Schwierigkeiten aus den Fängen familiärer Erwartungen befreit. Eine Karriere im Verlag? Ist nichts für den jungen Mann, der sogar in die USA geschickt wird, um sich mit dem Business vertraut zu machen (was mit einem spektakulären Rauswurf wegen Unruhestiftung endete). Es gibt in Rowohlt etwas wie eine idiosynkratische Abneigung gegen die große Geschäftswelt der Verlage, die seinen Blick für das Geistfeindliche schärft, das zu dieser Welt notwendig dazugehört. So kann er, wie Solloch schildert, sein geniales Talent zum Übersetzen entfalten – von Kinderbüchern wie »Pu der Bär« über Robert Crumb und Kurt Vonnegut bis zu einem halben Regal irischer Autoren.
Später entdeckt Rowohlt weitere Talente: Er liest vor Publikum und beglückt damit vor allem auch Buchhandlungen in der Provinz, spricht Hörbücher ein, schreibt für die Wochenzeitung »Zeit« die unregelmäßige Kolumne »Pooh’s Corner« (die »Meinungen eines Bären von sehr geringem Verstand« sind zum Glück längst gesammelt als Buch erschienen) und bringt als improvisierender Obdachlosendarsteller mehr Sozialrealismus in die »Lindenstraße«. Bei aller Umtriebigkeit und Rührigkeit entgehen Solloch auch ein paar Perlen aus dem Spätwerk, wie beispielsweise »Marx & Engels intim«, als Rowohlt gemeinsam mit Gregor Gysi aus den Briefen der kommunistischen Urväter liest. Der politische Harry Rowohlt in den Kämpfen seiner Zeit klingt zwar in Sollochs gut lesbarer Biografie immer wieder an, hätte aber durchaus auch ein eigenes Kapitel verdient gehabt. Das Buch darf dem ungeachtet als ein verdienst- und wertvoller Beitrag zur Bärenkunde gelten.
Alexander Solloch: Harry Rowohlt. Ein freies Leben. Kein & Aber, 320 S., geb., 26 €.
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.