Science-Fiction-Drama »Lola«: Gefährliche Visionen

Im Film »Lola« würfelt Regisseur Andrew Legge Zeit- und Realitätsebenen wild durcheinander

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Zwei Schwestern erfinden einen Apparat namens Lola, der Radio- und Fernsehsendungen aus der Zukunft empfängt.
Zwei Schwestern erfinden einen Apparat namens Lola, der Radio- und Fernsehsendungen aus der Zukunft empfängt.

»Verstehen kann man das Leben nur rückwärts, leben muss man es aber vorwärts«, sagte einst der Philosoph Søren Kierkegaard. Im Film gilt diese Regel nicht. Schon längst greifen viele Filmschaffende auf Zeitreisen zurück und brechen Zeitebenen auf. Auch Regisseur Andrew Legges Spielfilmdebüt »Lola« wagt das Gedankenexperiment. In dem Science-Fiction-Drama erfinden zwei Schwestern (Thom und Mars) einen Apparat (Lola), der Radio- und Fernsehsendungen aus der Zukunft empfängt, sie selbst verlassen ihre Zeitebene nicht. Doch ihr Wissen ist Macht. Und so bleibt es nicht aus, dass auch sie in den Verlauf der Geschichte eingreifen.

Legge würfelt in »Lola« Zeit- und Realitätsebenen wild durcheinander und kombiniert fiktives Filmmaterial aus der Vergangenheit mit echtem Archivmaterial. Im Film präsentiert das Material Visionen von Ereignissen, die noch nicht stattgefunden haben. Den retrofuturistischen, teils düsteren Soundtrack komponierte »The Divine Comedy«-Frontmann Neil Hannon. Manches Stück hat Hitpotenzial, und das ist auch gut so, denn Hannons Sound spinnt sich wie ein roter Faden durch das teils sehr flimmernde (Archiv-)Material. Dank dieses Kniffs und überzeugender Hauptdarstellerinnen ist Legge ein spannender Trip in eine Zeit gelungen, der unsere Historie neu (be)schreibt.

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Legge spinnt hier eine Idee aus seinem Kurzfilm »The Chronoscope« weiter. Die Mockumentary erzählte von einer Maschine, die mittels Funkwellen Bilder aus der Vergangenheit produzierte, Lola zeigt nun Realitäten aus der Zukunft. Im Mittelpunkt der Story stehen Thomasina »Thom« Hanbury (Emma Appleton) und Martha »Mars« Hanbury (Stefanie Martini), die nach dem frühen Tod ihrer Eltern den Wunderapparat Lola – benannt nach ihrer Mutter – erfinden. Mittels elektromagnetischer Impulse empfangen sie Ende der 30er Jahre Radio- und Fernsehsendungen aus der Zukunft. Sie führen ein sorgloses, ein bisschen verrücktes Leben zwischen Gegenwart und Zukunft. Vor ihrer Zeit hören sie »Major Tom«, David Bowie (»Space Oddity«) und the Kinks (»You really got me«), sehen Filme und werden Zeugen von gesellschaftlichen Ereignissen, welche in Wahrheit noch gar nicht stattgefunden haben. Sie nutzen ihr Wissen, um bei Pferdewetten todsichere Wetten zu platzieren. Vom Gewinn kauft Mars ein Auto und Thom ein Pferd, auf dem sie gerne durchs Haus reitet.

Generell ist Mars die emotionalere der beiden und so ist es Thom, die zuerst begreift, dass Lola nicht nur ein kulturelles Spielzeug, sondern auch eine Waffe sein kann. Als sich der Zweite Weltkrieg 1941 in London zuspitzt, fühlt sie sich in der Pflicht, in den Krieg ihres Landes einzugreifen und die britische Armee vor einem drohenden Angriff der Nazis zu warnen. Schon bald wird sie als unbekannter »Engel von Portobello« gefeiert. Da Thom und Mars die Funkwellen für Lola über Gasleitungen empfangen, bleiben sie lange unentdeckt, bis eines Tages das Militär vor der Tür steht. Thom lenkt weiterhin das Schicksal der Welt, während ihre Schwester sich in einen jungen Offizier (Rory Fleck Byrne) verliebt. Die beiden Schwestern werden sich immer mehr voneinander entfernen und unvorhergesehene, fatale Ereignisse werden passieren. Dass David Bowie nie geboren werden wird und stattdessen der faschistische Sound von Reginald Watson und der düstere »Sound of Marching Feet« erklingt, ist nur der erste Schritt.

Die Story erzählt Andrew Legge aus der Sicht von Mars’ Kamera rückblickend. »Lola« ist durch und durch ein persönliches Liebhaberprojekt. Das merkt man auch daran, wie Legge Found-Footage-Material mit neu aufgenommenen Szenen zusammenfügt. Erst sammelte er historisches Material von Pathé, Getty, AP und Alamy, im Anschluss drehte Kamerafrau Oona Menges die Szenen mit den beiden Schwestern. Damit der Film möglichst authentisch wirkt, wurden historische Kameras verwendet. Menges lieh sich die gleiche Arriflex 35-mm-Kamera, mit der bereits Stanley Kubrick eine Szene aus »A Clockwork Orange« gefilmt hatte. Die Kamera selbst entstammt den 50er Jahren.

Auch Legge hielt kurze Szenen mit seiner privaten, aufziehbaren Bolex-Kamera aus den 30er Jahren auf 16-mm-Film fest. Die Aufnahmen entwickelte er in seiner Badewanne, trocknete den Film und ließ ihn dann scannen. Da Mars im Film ihre Schwester stets mit der Kamera begleitet, filmte Schauspielerin Stefanie Martini (Mars) mit der Bolex einige Schlüsselszenen selbst. Fiktive Wochenschauen und weitere historische Aufnahmen, die in neuen Kontext gesetzt wurden, ergänzen das Montagematerial. Aus Tausenden von Aufnahmen suchte das Team beispielsweise einen Schnipsel mit Adolf Hitler heraus. Im Original betrachtet der Führer einen VW-Käfer, im Film betrachtet er durch schlaue Schnitte Lola. Durch solch erstaunliche Verwebungen von Wirklichkeit und Fiktion bekommt der Science-Fiction-Film einen tieferen Kontext und deshalb verzeiht man auch gerne die eine oder andere qualitativ schlechte Aufnahme. »Lola« regt zum Nachdenken über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft an und das ist die eigentliche Zeitreise.

»Lola«; IRL, UK 2022. Regie: Andrew Legge, Buch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane. Mit: Stefanie Martini, Emma Appleton, Rory Fleck Byrne, Aaron Monaghan. 80 Minuten, Kinostart: 28. Dezember.

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