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Roman »Blutbuch«: Albtraum Familie

Berliner Theatertreffen: Jan Friedrich hat den gefeierten Roman »Blutbuch« adaptiert und bildstark Schmerz, Scham und Schuld durchgearbeitet

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Märchenrätsel oder genderfluide Selbstsuche? In jedem Fall eindringliche Bilder: »Blutbuch« am Theater Magdeburg
Märchenrätsel oder genderfluide Selbstsuche? In jedem Fall eindringliche Bilder: »Blutbuch« am Theater Magdeburg

Mit wächsernem, zur Maske geronnenem Gesicht starrt die Großmeer ins Publikum. Um ihre Hände rankt sich die Arthritis wie eine Dornenhecke. »Warum bist du eigentlich nie da?«, schleudert sie den Zuschauer*innen und ihrem Enkelkind entgegen. Die Großmutter, im Berndeutschen Großmeer, ist die bestimmende Figur in der Kindheit von Kim de L’Horizon. Alles dreht sich um die alte Frau, aber sie selbst wirkt in ihrer beigen Strickjacke und der dicken weißen Strumpfhose farblos neben den bunten Kostümen der anderen.

Wie Schwemmgut treiben die Erinnerungsbilder nach vorn und schimmern schwarz-weiß auf dem bodenlangen Fadenvorhang: ihr Mund als unersättlicher Rachen, in denen sie die noch zu heißen Fotzelschnitten hineinschlingt, die großen Hände, die drohen das Kind zu packen, und ihre Truckli. Als Mitbringsel von Reisen stellen sie den erreichten Wohlstand der alten Frau aus, aber in sich bergen die Truhen nur Leere, die dem Kind Unbehagen bereitet.

Nah an der Romanvorlage hat Jan Friedrich »Blutbuch« in eindringlichen Bildern am Theater Magdeburg inszeniert. Nun ist die Produktion beim Berliner Theatertreffen zu sehen. In der autofiktionalen Auseinandersetzung der*des genderfluiden Autor*in verzerrt sich die Kindheit zu schrecklichen Märchenbildern, fast so als laste ein Fluch auf den matrilinearen Vorfahrinnen. Die als Monster beschriebene Großmeer vererbte Angst und Härte an die Meer des Kindes, die ihm wie die Disney-Hexe Maleficent erscheint. Aus ihrem Kopf wachsen zwei blaue Hörner und ihr Herz droht zu Eis zu erstarren, würde das pausbäckige Kind ihr nicht mit zärtlichen Zaubersprüchen etwas Wärme einhauchen. Treffend taucht der Vater nur als Leerstelle auf. Sein Gesicht verdeckt eine Papiertüte, von der ein Smiley teilnahmslos in die Trümmer des Familienlebens starrt.

Vergangenheit und Gegenwart des Erzählten überlagern sich im Bühnenaufbau von Alexandre Corazzola. Auf einem Podest liegt das urbane Zimmer, in das die erzählende Person nach Zürich geflohen ist, während die Kindheit im Keller darunter rumort und nur mit Kameras sichtbar wird. Die Aufnahmen zerstückeln die Körper und verwandeln das Familientrauma in einen surrealen Body-Horror, in dem Zungen mit dem Sackmesser abgeschnitten werden und Finger ein Eigenleben entdecken. Zwischen Flüchen und Horrorfantasien robbt das von Carmen Steinert gespielte Kind auf Knien umher, auf der Suche nach einem Körper, einem Geschlecht und einer Sprache, die zu ihm gehören.

Die Lust, sich selbst und andere zum Ding zu machen, begleitet die*den Protagonist*in bis in das Sexleben. In der Großstadt findet die Verwandlung zum »Dolce-Gabbana-Gay« mit Bubble Butt statt. Der lebt nach einer einfachen Gleichung: Mehr Muskeln und niedriger Körperfettanteil ergeben höhere Fickbarkeit. Nicht nur die Lust an Kontrolle begleitet den Heranwachsenden, auch rassistische Stereotype der Großmutter tauchen im Begehren wieder auf.

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Nur weil exotisierende Männlichkeit theoretisch abgelehnt wird, verschwindet sie nicht in der Fantasie. In einer grenzüberschreitenden Szene erniedrigt die Hauptfigur einen Party-Fling rassistisch in einem militärischen Rollenspiel. »Wir wollen eure Körper, aber euch wollen wir nicht«, reflektiert sie später. Sie ist eben nicht nur Opfer, sondern auch Täter ihrer Umstände und schafft es nicht, sich von Rassismus und Objektifizierung durch reine Dekonstruktion zu befreien.

Das problematische Erbe lässt sich nicht einfach abstreifen. Es ist tiefverwurzelt wie die Blutbuche vor dem Familienhaus. Gepflanzt zur Geburt der Großmeer, wird der Baum zur Allegorie für die völkische Schicksalsgemeinschaft Familie. Dass sich der Urgroßvater gerade für diesen Baum entschied, war kein Zufall. Kim de L’Horizon rekonstruiert, wie der nationalsozialistische Landschaftsarchitekt Heinrich Wiepking die Buche mit Blut-und-Boden-Ideologie popularisierte. Der Urgroßvater sei zwar kein Nationalsozialist, aber gewiss ein Nationalist gewesen.

In der Inszenierung am Theater Magdeburg taucht Abstammung in all ihren anstrengenden, unangenehmen und unbefriedigenden Dimensionen auf. Eingetaucht in das magische Denken des Kindes wird es zum Märchenrätsel, ob sich ein Umgang mit diesem Erbe finden lässt. Zwischen Hexen, sprechenden Bäumen und Zaubertränken bleibt nur, den Schmerz, die Scham und die Schuld durchzuarbeiten, wie es Kim de L’Horizon in der Sprache und Jan Friedrich in seinen schrillen, eindringlichen Bildern gelungen ist.

Vorstellungen beim Theatertreffen: 3. und 4.5.
www.berlinerfestspiele.de

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