»Die Türkei will den Willen der Bevölkerung brechen«

Berîvan Hesen über die Bombardierung der kurdischen Gebiete in Nordsyrien durch türkisches Militär

  • Interview: Tim Krüger
  • Lesedauer: 4 Min.

Die türkische Armee hat ein weiteres Mal mit Luftangriffen gegen die Gebiete Nord- und Ostsyriens begonnen. Können Sie mehr über die jüngsten Angriffe sagen?

Wie Sie wissen, hat der türkische Staat am 23. Dezember einen genozidalen Angriff gegen die Bevölkerung unserer Region begonnen. Das vorrangige Ziel der Angriffe ist es, durch die Zerstörung von Ölförderanlagen, Energieversorgung, öffentlichen Einrichtungen und Krankenhäusern die Bevölkerung von den grundlegenden Bedürfnissen ihres Lebens abzuschneiden. Allein im Kanton Cizîre wurden in kürzester Zeit elf verschiedene Ziele bombardiert, unter anderem eine Fabrik an der Umgehungsstraße in Qamişlo, sowie die zivilen Siedlungsgebiete in dem kleinen Ort Girbawî oder die Weizensilos im Dorf Gir Ziyarti, im Westen der Stadt Amûde. Das Dorf Al-Tawîla in der ländlichen Umgebung von Til Temir wurde vollständig zerstört. Gleichzeitig wurde in Kobane ein Krankenhaus und in Qamişlo ein Dialysezentrum zerstört. Das Zentrum ist seitdem außer Betrieb und ein Patient hat auf Grund mangelnder Behandlung schon sein Leben verloren. Daneben wurden an verschiedenen Stellen Wasserwerke, Fabriken, Ställe von Nutztieren, Lagerstätten für Mehl und Weizenprodukte und die Stromversorgung ins Visier genommen. Auch eine Baufirma wurde bei den Angriffen zerstört. In Cizîre und Kobanê wurden zudem zehn Kontrollposten der »Inneren Sicherheitskräfte« zerbombt.

Der türkische Staat greift die Gebiete Nord- und Ostsyriens regelmäßig an. Welches Ziel verfolgt die türkische Führung?

Interview

Berîvan Hesen ist Ko-Vorsitzende der Stadtverwaltung Derîks (arab. Al-Mali­ki­yah) im äußersten Nordosten Syriens.

Es ist völlig klar, dass es darum geht, den Willen der Bevölkerung zu brechen und sie zu zermürben. Man versucht, der Bevölkerung durch diese Angriffe das Leben unmöglich zu machen. Da zum Beispiel auch zahlreiche Großbäckereien von den Angriffen betroffen sind, musste an vielen Orten die Produktion eingestellt werden und die Menschen sind ohne Brot. Das allein zeigt die Barbarei des türkischen Staates. In den ersten Tagen der Angriffe hat der türkische Staat auch große Lager für Erdölprodukte und Förderanlagen unter Beschuss genommen. Das ist eine perfide Strategie, so soll der Bevölkerung unter anderem die Möglichkeit genommen werden, in den Wintermonaten zu heizen. Man will unserer Bevölkerung die Luft zum Atmen nehmen. Daher setzen sie ihre Angriffe ununterbrochen fort. Der türkische Staat ist am Widerstand der Guerilla in den »Medya-Verteidigungsgebieten« (von der PKK gehaltene Territorien im Nordirak, d. Red.) gescheitert. Sie konnten die Aktionen der Guerilla nicht schwächen und ihr Wille ist ungebrochen. Um ihre Niederlage zu vertuschen, greifen sie unser Volk an. Doch genauso wie der Widerstand der Guerilla ungebrochen anhält, so leistet auch das Volk Widerstand.

2019 wurde ein Waffenstillstand unter der Schirmherrschaft der USA und Russlands ausgerufen. Haben die Garantiemächte angesichts der jüngsten Angriffe Position bezogen oder gab es irgendwelche Reaktionen von internationaler Seite?

Die Großmächte sind selbst Komplizen des türkischen Staates. Ohne ihre Kenntnis und Erlaubnis kann die Türkei keinerlei Angriffe gegen Nord- und Ostsyrien durchführen. Sie schweigen zu den Angriffen, weil sie dem türkischen Staat selbst freie Hand gelassen haben. Weder vonseiten Russlands noch vonseiten der Internationalen Koalition wurde eine klare Position gegen die türkischen Angriffe bezogen, noch wurde etwas unternommen, um Erdoğan Einhalt zu gebieten. Für uns gibt es keinen Unterschied zwischen dem türkischen Staat und dem Islamischen Staat (IS). Derjenige, der die Banden des IS ausbildet und sie auf diese Region loslässt, ist das Regime Erdoğans selbst. Die türkische Luftwaffe bombardiert bewusst die Gefängnisse, um gefangenen IS-Kämpfern zum Ausbruch zu verhelfen und den Islamischen Staat wieder aufleben zu lassen. Sie spielen ein sehr gefährliches Spiel. Dessen sollten sich alle bewusst sein.

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