Werbung
  • Reise
  • Kulinarik-Spaziergang

Hamburger Schanzenviertel: Weltrevolution und Trüffel-Pasta

Bei einer kulinarischen Stadttour kann man sich die Vielfalt der Hansestadtauf der Zunge zergehen lassen: Croque Monsieur, Cremetörtchen und Falafel

  • Ulrike Wiebrecht
  • Lesedauer: 7 Min.
Im Café MIP – Abkürzung für »Made in Portugal« – gibt’s die köstlichsten Pastéis de Nata.
Im Café MIP – Abkürzung für »Made in Portugal« – gibt’s die köstlichsten Pastéis de Nata.

Beim Thema Currywurst sind Berliner bekanntermaßen kompromisslos. Insofern werden die meisten beim Ketchup, den der Hamburger Imbiss bei Schorsch zur Wurst reicht, bemängeln, dass er viel zu viel Tomate und viel zu wenig Curry enthält. Und trotzdem den winzigen Laden Beim Grünen Jäger 14 ins Herz schließen. Er quillt über von Urkunden und Fotos mehr oder weniger berühmter Gäste, außerdem hat Betreiberin Ingrid immer einen flotten Spruch auf Lager. Deshalb ist der 1961 gegründete Kult-Imbiss auch obligatorische Station auf einer kulinarischen Stadttour durchs Schanzenviertel.

Bei den Stadtführungen von Eat the World geht es nicht allein um Bauwerke und ihre Geschichte. Die Teilnehmer sollen auch – wortwörtlich – auf den Geschmack des jeweiligen Viertels kommen und sich die eine oder andere Kostprobe auf der Zunge zergehen lassen. Mal sind das ein paar Falafel-Bällchen in einem arabischen Familienbetrieb, mal ist es ein Stück Croque Monsieur in der Créperie La Famille, eine Spezialität aus Brunos Käseladen oder eben eine kleine Portion von Schorschs Currywurst. Die vielen Snacks halten einen während der dreistündigen Touren nicht nur bei Laune. Im Winter kann man sich auf diese Weise auch zwischendurch in den Lokalen ein bisschen aufwärmen.

nd.DieWoche – unser wöchentlicher Newsletter

Mit unserem wöchentlichen Newsletter nd.DieWoche schauen Sie auf die wichtigsten Themen der Woche und lesen die Highlights unserer Samstagsausgabe bereits am Freitag. Hier das kostenlose Abo holen.

Das Angebot an kulinarischen Stadtführungen ist groß. Man könnte Eppendorf, Eimsbüttel, Ottensen oder St. Pauli erkunden. Wir probieren es mit dem Schanzenviertel und können jenseits von Mönckebergstraße, neuer Hafen-City und Elbphilharmonie einen der belebtesten und beliebtesten Kieze der Hansestadt entdecken. Zugleich einen, der sich in den letzten Jahren drastisch verändert hat. »Einerseits wird hier die Weltrevolution geplant, andererseits kann man Hedonismus pur erleben«, bringt es Stadtführer Klaus-Peter Flügel auf den Punkt, der uns begleitet. Er ist seit 1986 ganz in der Nähe zu Hause. Jede zweite Demonstration startet vor seinem Haus, nach jedem 1. Mai gehen Bilder von Krawallen rund um die Rote Flora durch die Medien. Gleichzeitig hat KP, wie er sich gern kurz nennt, beobachtet, dass die Mieten in den letzten Jahren rasant gestiegen sind. »Für eine 50-Quadratmeter-Wohnung zahlt man 950 bis 1100 Euro«, sagt er.

Während junge Hamburgerinnen von den Falafel-Läden nahe der Sternschanze schwärmen, machen Ältere hier Jagd auf Designer-Brillen oder coole Outfits. Nachts füllen wiederum unzählige Vergnügungssüchtige die Straßen. Wie kam es dazu, dass sich das ärmliche Arbeiterviertel erst in eine politisch brisante Gegend und dann in ein hippes Ausgehviertel verwandelt hat?

Mit dieser Frage haben wir uns, eine kleine Gruppe aus Norddeutschen und Berlinern, zusammen mit Klaus-Peter Flügel auf den Weg gemacht. Treffpunkt ist Ecke Rosenhofstraße und Schulterblatt. Ringsum reiht sich ein Lokal ans andere. Die Häuserwände sind von Graffitis übersät, auf den Straßen liegen Flaschen und Papiermüll, Spuren der vergangenen Nacht. Viele Menschen sind am Sonntagmittag noch nicht unterwegs. Nur vereinzelt sitzen hier und da welche in den Cafés beim Frühstück.

»Offiziell gibt es den Stadtteil Sternschanze erst seit 2008«, erklärt der Guide. Benannt nach einer sternförmigen Verteidigungsanlage aus dem 17. Jahrhundert, die inzwischen dem Sternschanzenpark gewichen ist, erstreckt er sich zwischen Altona, Eimsbüttel, Hamburg-Mitte und St. Pauli und wird vom Bezirk Altona verwaltet. Ende des 19. Jahrhunderts entstand hier, vor den Toren Hamburgs, ein Schlachthof – bis 1995 war er in Betrieb, sodass dem Guide zufolge oft ein unangenehmer Blutgeruch in der Luft hing. Außerdem gab es Industrieunternehmen wie die Fertigungshalle des Schreibgeräte-Herstellers Montblanc oder die 1873 gegründete Pianoforte-Fabrik, in der sich inzwischen die Kreativ-Wirtschaft eingerichtet hat.

Als Klaus-Peter Flügel in den 80er Jahren hierherkam, war aus der Schanze ein Arbeiterviertel mit großem Sanierungsbedarf geworden. Entsprechend billig war der Wohnraum. So kamen hinter den zum Teil stattlichen Fassaden viele Studenten, eine alternative Szene und sogenannte Gastarbeiter unter, darunter viele Migranten aus Portugal. Kein Wunder, dass es in der Schanze auffallend viele portugiesische Lokale gibt. Zum Beispiel das Tapas-Restaurant Bairro Alto am Schulterblatt. Wesentlich unscheinbarer ist das kleine Café MIP – Abkürzung für »Made in Portugal« –, vor dem wir haltmachen. Es ist so eng, dass die Stammgäste es »schmales Handtuch« nennen. Doch die Ladentheke quillt über von verführerischen Gebäckstücken. Und die Pastéis de Nata, mit Sahnecreme gefüllte Blätterteigpastetchen, die wir hier gereicht bekommen, sind tatsächlich köstlich.

Auskenner: Guide Klaus Peter Flügel lebt seit 1986 im Schanzenviertel.
Auskenner: Guide Klaus Peter Flügel lebt seit 1986 im Schanzenviertel.

Wie der Guide erklärt, sind es auch vor allem die Portugiesen gewesen, die dafür gesorgt haben, dass im Schanzenviertel ein mediterranes Lebensgefühl einzog. Vorher habe es nur drei oder vier Punk-Treffs und ein paar traditionelle Bier-Kneipen gegeben. So wurden hier schon lange, bevor Latte Macchiato in Mode kam, Kaffeespezialitäten wie Galão, Bica oder Café Pingado geschlürft. In der Folge siedelten sich auch asiatische oder arabische Läden an. Heute ist das kulinarische Angebot der Schanze an Vielfalt kaum zu überbieten.

Bevor wir davon eine weitere Kostprobe zu uns nehmen, geht es an der legendären Roten Flora vorbei. Um 1850 gab es hier ein Vergnügungsviertel, das Tivoli, später entstand auf dem Gelände das Gesellschafts- und Concerthaus Flora, das 1890 noch durch ein innovatives Crystalltheater aus Glas und Stahl erweitert wurde. Stars wie Zarah Leander sollen hier aufgetreten sein, sonntags gab es Boxkämpfe. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg hatte es reichlich Patina angesetzt. 1964 zog noch das Kaufhaus »1000 Töpfe« in das marode Gebäude. 1987 wollte dann Musical-Produzent Friedrich Kurz auf dem Gelände ein neues Theater für das »Phantom der Oper« errichten. Die Pläne waren schon weit gediehen. »Doch dann regte sich in der Bevölkerung erbitterter Widerstand«, weiß der Stadtführer zu berichten.

Nachdem der größte Teil des Kristallpalastes bereits abgerissen und nur der Eingangsbereich des Flora-Theaters übrig war, besetzten militante Gruppen das Gebäude. Nach langwierigen Verhandlungen mit dem Hamburger Senat wurde aus der Roten Flora ein autonomes Kulturzentrum mit kleiner Skater-Arena und angrenzender Grünanlage. Klaus-Peter Flügel bedauert lediglich, dass sich die Betreiber allzu sehr vom restlichen Viertel abschotten. Anders als das benachbarte Kulturhaus 73, das mit Jam-Sessions, Kino und Stand-up-Comedy ein breiteres Publikum lockt. Schräg dahinter ragt noch der einstige Hochbunker hervor, der jetzt als Kilimanschanzo zum Klettern einlädt.

Für uns wird es indessen Zeit für einen weiteren Snack. Am ehemaligen Schlachthof vorbei laufen wir – begleitet von den Gesängen der St. Pauli-Fans im nahegelegenen Stadion – zur denkmalgeschützten Rindermarkthalle. Wo einst die Tiere auf ihr nahendes Ende warteten, hat sich neben mehreren Supermärkten das Restaurant Markt-König eingerichtet. Bei einem Schälchen Penne mit Trüffel-Mascarpone und heißem Tee gleiten unsere Augen über das schicke, holzgetäfelte Ambiente, das im krassen Gegensatz zur Roten Flora steht.

»Ja, die Gegend ist voller Gegensätze und Widersprüche«, räumt der Guide ein und macht aus seinem ambivalenten Verhältnis zum Schanzenviertel keinen Hehl. Doch findet er es spannend, die Entwicklung zu verfolgen und bei seinen Stadtführungen davon zu berichten. Immerhin sei das Miteinander von Anwohnern, Geschäften, Bars und Besuchern – noch – weitgehend konfliktfrei. Nur wenn das Partyvolk, das in manchen Nächten mit mitgebrachten Drinks zum Cornern in die Straßen um das Schulterblatt einfällt und sich später in Büschen oder Hauseingängen erleichtert, hört für die Bewohner der Spaß auf. »Haut ab«, steht auf einem Betttuch, das aus der oberen Etage eines Hauses hängt und auf dem ein »Manneken Pis« abgebildet ist. Am Sonntagmittag geht es hier zum Glück ganz zivilisiert zu. An Alkoholexzesse ist jetzt nicht zu denken. An die Weltrevolution allerdings auch nicht.

Die Recherche wurde unterstützt von Eat the World.

Tipps
  • Eat the World: Das Unternehmen bietet in vielen deutschen Städten kulinarische Stadtführungen an. In Hamburg stehen neben dem Schanzenviertel zum Beispiel Touren durch Eppen­dorf, Eimsbüttel, St. Georg, Hafen-City oder St. Pauli auf dem Programm. Die dreistündigen Rundgänge mit mehreren Einkehrstopps kosten ca. 44 Euro.
    www.eat-the-world.com

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -