Labour scheut neuen Brexit-Streit

Für die Opposition ist bei einem Wahlsieg eine Rückkehr Großbritanniens in die EU keine Option

  • Sascha Zastiral, London
  • Lesedauer: 4 Min.

Londons Bürgermeister Sadiq Khan ist schon lange als eingefleischter Brexit-Kritiker bekannt. Sein aktueller Vorstoß geht in dieselbe Richtung: Khan rief zu einem Abkommen auf, das es jungen Briten ermöglichen würde, wieder wie vor dem Brexit in der EU zu studieren und zu arbeiten. Im Gegenzug soll es für junge EU-Bürger einfacher werden, nach London zu kommen.

»Der harte Brexit der Regierung hat in ganz London Schaden angerichtet, und es sind junge Menschen, die in vielerlei Hinsicht am härtesten betroffen sind«, sagte der Labour-Politiker in einem Gespräch mit der Wochenzeitung »The Observer«. Er würde daher ein Jugend-Mobilitätsprogramm unterstützen, »das uns wirtschaftlich, kulturell und sozial« zugute kommen würde, fügte Khan hinzu. »Auch wenn das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der EU ist, ist und bleibt London eine europäische Stadt.«

Sadiq Khan will wieder in EU-Binnenmarkt

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Khan hat sich in der Vergangenheit bereits mehrfach dafür ausgesprochen, über einen erneuten Beitritt zum EU-Binnenmarkt und zur Zollunion nachzudenken. Auch der designierte Labour-Außenminister David Lammy spricht schon länger von einer engeren Kooperation mit der EU, die er im Fall eines Labour-Sieges bei den Parlamentswahlen anstreben würde, die spätestens im Januar 2025 abgehalten werden müssen.

Dabei liegt Labour in sämtlichen Umfragen schon seit Monaten scheinbar uneinholbar vor den Tories. Rückt eine Annäherung des Landes an die EU – oder gar ein erneuter EU-Beitritt der Briten – damit in greifbare Nähe? Den Großteil der Bevölkerung wüsste eine Labour-Regierung hinter sich. In einer kürzlichen Umfrage erklärten nur noch 22 Prozent der Befragten, dass der Brexit gut für das Land gewesen sei.

Labour beim Thema Brexit gespalten

Der jetzige Labour-Chef Keir Starmer hatte sich im Vorfeld des EU-Referendums 2016 für einen Verbleib in der EU eingesetzt. Vor den Wahlen 2019 sprach er sich als Schatten-Brexitminister unter dem linken Parteichef Jeremy Corbyn für ein zweites EU-Referendum aus. Heute möchte Starmer davon jedoch nichts mehr wissen. Einen erneuten Beitritt zum Europäischen Binnenmarkt, zur Zollunion oder gar zu EU schließt er kategorisch aus. Die Ex-Zentralbankerin Rachel Reeves, die im Fall eines Labour-Wahlsieges Schatzkanzlerin werden würde, brachte die Position ihrer Partei kürzlich noch deutlicher auf den Punkt. Darauf angesprochen, ob Großbritannien unter Labour wieder der EU beitreten würde, antwortete Reeves kürzlich unwirsch: »Nein, nein, nein. Sie verstehen es nicht!«

Offensichtlich möchte die Labour-Führung nicht die »Leaver« im Land gegen sich aufbringen. Zumal die Partei in Sachen Brexit so gespalten ist wie keine andere: So hat sie sich beim EU-Referendum 2016 zwar mehrheitlich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen. Im Großteil der von Labour dominierten Wahlkreise gab es damals jedoch eine Mehrheit für den Brexit. Und das vor allem im »roten« Kernland in Nordengland. Dort konnte Boris Johnson bei den Wahlen 2019 mit dem Versprechen, den Brexit »durchzuziehen«, viele traditionelle Labour-Hochburgen auf seine Seite ziehen. Diese Wahlkreise möchte Starmer unbedingt zurückgewinnen.

Von Aktivisten darauf angesprochen, warum Labour in Sachen Brexit nicht mutiger auftrete, erklärte Schatten-Schatzkanzlerin Reeves, dass sich die Befürworter und Gegner des EU-Austritts bis heute mit ihrer Entscheidung beim EU-Referendum identifizieren. Entsprechend gefährlich wäre es, an diese gesellschaftliche Spaltung zu rühren.

Ambivalente Haltung zu Brüssel

Ohnehin ist die Haltung vieler Labour-Politiker gegenüber der EU seit jeher ambivalenter, als es die binäre Ja-Nein-Frage von 2016 erscheinen ließ. Etliche führende Köpfe blickten in der Vergangenheit eher skeptisch nach Brüssel. Rachel Reeves räumte 2018 ein, dass die Brexit-Befürworter mit ihren Argumenten nicht ganz falsch gelegen hätten. Britische Regierungen hätten sich vier Jahrzehnte lang »einer liberalen Marktglobalisierung verschrieben«, schrieb Reeves. Der grenzüberschreitende Fluss von Kapital, Gütern, Informationen, Menschen und Dienstleistungen habe zwar »zu einem dramatischen Anstieg des Lebensstandards auf der ganzen Welt geführt«. Diese Entwicklungen hätten aber auch »ein historisch hohes Maß an Ungleichheit, kultureller Zerstörung und demografischen Umwälzungen« geschaffen.

Und so ist Keir Starmer mit seiner zurückhaltenden Position gegenüber dem Europäischen Binnenmarkt und der EU gar nicht so weit von den traditionellen Positionen seiner Partei entfernt. Dennoch könnte eine zukünftige Labour-Regierung dazu gezwungen sein, sich um ein wieder engeres Verhältnis zur EU zu bemühen. Das allerdings vorrangig aus pragmatischen Erwägungen. In den Worten von »The Economist« würden damit verbundene politische Beschränkungen jedoch nicht als Errungenschaften eines europäischen Projekts verkauft werden. »Sie wären der Preis, den man widerwillig und ohne großes Aufsehen für bessere Lebensverhältnisse zahlen müsste.«

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