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Indigene in Nordalaska: »Viele sind traumatisiert«
Die Indigene Qapqan Patkotak über das Schweigen der Verbrechen an ihren Vorfahren
Du bist aus Utqiaġvik, der nördlichsten Siedlung in Nordamerika. Wie war die Kindheit in der Arktis für dich?
Wir sind stets zwischen zwei Welten gewandelt: Da gab es einerseits die »verwestlichte Welt«, die Schule, Arbeit und alles, was die Kolonialisierung hervorbrachte, umfasst hat. Und auf der anderen Seite gab es die Welt der Iñupiat, die zum Beispiel Jagen, Traditionen, Singen, Tanzen und unsere Sprache umfasste. Diese zwei Welten sind grundverschieden. Ich habe mich immer danach gesehnt, wie meine Ahnen zu leben. Doch es ist schwierig, nach unseren Bräuchen zu leben, weil viel Wissen über das Überleben da draußen verloren gegangen ist.
Bei euch herrschen im langen Winter Temperaturen bis zu minus 40 Grad Celsius. Würdest du sagen, du hast eine besondere Beziehung zu Schnee und Eis?
Ich schätze ja, da wir immer so viel davon hatten. Wenn es richtig kalt war, ging ich häufig mit meinen Freund*innen raus, oder wir hingen einfach in einem unserer Häuser ab. Ich wäre auch gerne mit den Älteren auf die Jagd mitgegangen, aber es kam leider nie dazu. Früher war mein Onkel der Jäger in meiner Familie, aber er starb schon, als ich drei Jahre alt war. Außerdem ist es für Mädchen weniger üblich als für Jungen, jagen zu gehen. Was die Älteren angeht: Viele Indigene in Alaska sind von der Kolonialisierung traumatisiert.
Qapqan Patkotak gehört zu der indigenen Volksgruppe der Iñupiat. Die 18-Jährige lebt in Utqiaġvik, einer Stadt mit 5000 Einwohner*innen im arktischen Norden Alaskas.
Indigenous Boarding Schools:
meist christliche Internate für Indigene, die in den USA und Kanada zwischen Anfang des 19. Jahrhunderts bis in die 1960er Jahre mit dem Ziel der Auflösung indigener Kultur, der Übernahme indigener Gebiete und der Assimilation indigener Menschen betrieben wurden. Indigene Kinder wurden aus ihren Dörfern an oft hunderte Meilen weit entfernte Internate gezwungen. Dort erhielten sie angelsächsische Namen und durften weder ihre Sprache sprechen noch ihre Religion ausüben. Oft wurde den Kindern jeder Kontakt zu ihren Verwandten versagt. Laut Wissenschaftler*innen und Zeitzeug*innen wurden die Kinder an den Internaten schwer misshandelt, mehrere zehntausend seien vermisst. In seltenen Fällen entgingen Kinder den Internaten, weil ihre Eltern sie vor den Kleriker*innen versteckten.
Der amerikanische Genozid:
Vor der Ankunft europäischer Siedler*innen im Jahr 1492 lebten auf dem Gebiet der heutigen USA Schätzungen zufolge fünf bis zwölf Millionen Indigene. Um 1900 lag die Zahl der amerikanischen Ureinwohner*innen auf dem historischen Tiefstand von 237 000. Der polnisch-jüdische Jurist und Friedensforscher Raphael Lemkin beschrieb den Völkermord an den Indigenen in Nordamerika als zweistufigen Prozess: Stufe eins zielt auf die Vernichtung der Lebensweise der indigenen Bevölkerung ab. Bei Stufe zwei zwingen die Siedler den Indigenen dann ihre eigene Lebensweise auf. 2022 erkannte mit dem US-Innenministerium eine Regierungsbehörde die Vorgänge an den Internaten durch eine von ihr beauftragte Studie erstmals als Kulturgenozid an. Indigene Verbände kämpfen weiterhin um Reparationen.
MMIW – Missing and Murdered Indigenous Women:
das gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen überproportional häufige Verschwinden und Töten von indigenen Frauen und Mädchen in Kanada und den USA. Betroffen sind insbesondere die amerikanischen Arktis-Regionen: die First Nations im US-Bundesstaat Alaska und die Inuit in Kanada. Die Fälle bleiben in der Regel unaufgeklärt. Wissenschaftler*innen sowie Aktivist*innen der gleichnamigen Graswurzelbewegung MMIW weisen auf Zusammenhänge mit Sex- und Menschenhandel hin.
Wie beeinflusst das die jüngeren Generationen?
Wir haben die Traumata geerbt. Es zeigt sich sehr deutlich, dass auch jüngere Menschen unter dem leiden, was unsere Eltern und Großeltern erleben mussten. Vielen ist nicht klar, woran es liegt. Sie spüren einfach, dass etwas nicht in Ordnung ist. Es gibt viele Fälle von Alkoholismus bei uns, Drogenmissbrauch, alles, was man sich vorstellen kann. Viele junge Ureinwohner kämpfen mit ihrer psychischen Gesundheit. Manche leiden so sehr, dass es Selbstmorde* gibt. Die Selbstmordrate unter Indigenen ist überdurchschnittlich hoch. Wir in Alaska haben fast die höchste in den gesamten USA.
Wie ist das bei dir? Was haben deine Großeltern erlebt?
Meine Großeltern wurden gezwungen, auf Internate für Indigene zu gehen. Die Menschen wurden dort abscheulich behandelt. Das gilt für alle Ureinwohner*innen Alaskas und für die gesamten Vereinigten Staaten. Die Älteren, die an diesen Schulen waren, wollen normalerweise nicht darüber sprechen. Als ich versuchte, mit ihnen zu reden, sagten meine Großeltern nur: »Mann, diese Lehrer, die haben uns wirklich geschlagen. Sie haben uns wirklich schlecht behandelt.« Und das war es.
Warum dieses Schweigen?
Ich glaube, es ist zu unangenehm und schmerzhaft für sie, darüber zu sprechen – verständlicherweise. In der Schule wird uns nicht beigebracht, was damals passiert ist. Und weil das so ist, verstehen wir es oft nicht. Es sei denn, man befasst sich selbst damit, so wie ich es getan habe. Denn wenn man nicht weiß, wo es herkommt, kann es noch schwieriger sein, mit dem weitergegebenen Trauma umzugehen. Ich habe Dokumentarfilme gesehen und die Geschichten der Menschen gehört, die in den Internaten waren. Es war so verstörend, dass ich eine Zeit lang nicht zur Schule gehen konnte. Ich konnte für eine Weile nicht unter Menschen sein.
Fühlst du Wut? Auf die Kolonialisierung?
Ich war wirklich wütend, als ich zum ersten Mal davon erfuhr. Ich fragte mich: Warum wurde mir nicht früher davon erzählt? Aber auch: Warum wir? Und warum tut niemand was dagegen?
Wie beeinflusst dich das, was deine Großeltern erlebt haben? Spürst du auch so ein Trauma?
Ja. Ich habe in meinem Leben als Teenager viel mit Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Belastungsstörungen und Selbstmordgedanken zu kämpfen gehabt.
Was hat dir geholfen?
Dass ich mich tätowieren ließ. Die Tätowierungen sind eine traditionelle Medizin. Jamie Harcharek, die traditionelle Tätowiererin in Utqiaġvik, war in der vierten Klasse meine Iñupiaq-Lehrerin. Ich bin die Einzige an meiner Schule, die traditionelle Gesichts-Tätowierungen trägt. Ich gehöre zu den jüngsten Iñupiat mit Gesichtstattoos.
Kannst du die traditionellen Tattoos näher erklären?
Mädchen wählen sich ihr Motiv danach aus, was für eine Frau sie später mal sein wollen. Normalerweise wird das Tätowieren hauptsächlich von Frauen und an Frauen durchgeführt. Neben meinen Augen steht das Symbol für die arktischen Weiden, sie stehen für Widerstandsfähigkeit. Diese Kreise hier über meinem Kinn symbolisieren das Halten einer traditionellen Iñupiat-Trommel, einer Qilaun. Ich halte die Trommel zum Mond hoch. Und diese Linie in der Mitte soll eine Teilung darstellen: Die Teilung zwischen den Menschen. Auf jeder Seite sind drei Punkte, die die verschiedenen Arten der Teilung darstellen sollen. Zum Beispiel eine körperliche, eine geistige und eine spirituelle. Ich will damit sagen: Egal, wie groß unsere Unterschiede sind, wir stehen alle unter dem gleichen Mond. Das Motiv ist mir einfach so in den Kopf gekommen und ich wusste erst nicht, was es bedeutet. Es war fast… (lacht). Es war, als hätten meine Vorfahren es mir gebracht. Der Grund, warum ich sage, dass alle gleich sind, ist, dass wir alle nur leben wollen und wir alle nur lieben wollen. Egal, wer du bist. Egal, wie du aussehen magst.
Und was ist das für ein Messer, das Tattoo an deiner Hand?
Das habe ich selbst gemacht, weil ich darüber nachgedacht habe, wie vielen Frauen und Mädchen etwas Schlimmes passiert. Es bezieht sich auf die Protestbewegung Missing and Murdered Indigenous Women (deutsch: Vermisste und Ermordete Indigene Frauen). Denn in den USA und auch in Kanada verschwinden überproportional viele indigene Frauen. Viele werden umgebracht – oder nie gefunden. Bei uns hier oben ist es besonders schlimm. Meistens wird nur kurz nach ihnen gesucht. Keiner weiß, was mit den Frauen passiert. Manche sagen, dass es etwas mit Sex- und Menschenhandel zu tun hat. Eine Freundin von mir ist vor zwei oder drei Jahren verschwunden und wurde nie wieder gefunden. Sie haben sie nur einen Monat lang gesucht, dann haben sie aufgehört. Manche sagen, dass sie unter Drogen gesetzt worden sei und alleine aufs Eis hinausging.
Den Älteren wurden ihre indigenen Namen an den Internaten genommen. Wie ist das bei dir? Hattest du deinen Iñupiaq-Namen schon immer?
Ja, ich habe bei meiner Geburt einen englischen und einen Iñupiaq-Namen bekommen. Aber seine Bedeutung ist verloren gegangen. Und das ist bei vielen Namen so. Aufgrund der Kolonialisierung haben viele unserer Namen keine Bedeutung mehr. Einige unserer Namen sind auch Wörter in unserer Sprache, aber manche wurden ausschließlich als Namen verwendet. Von diesen Namen wissen wir oft die Bedeutung nicht mehr. Es gibt auch Indigene, die ihren Namen nicht bei der Geburt bekommen haben. Dann sind es normalerweise die Ältesten, die diesen Leuten ihre Namen später geben, wenn sie erwachsen sind.
Viele Indigene besinnen sich auf ihre Traditionen und nutzen ihre ursprünglichen Namen. Deine Heimatstadt, früher »Barrow« genannt, heißt jetzt wieder Utqiaġvik. Hast du den Eindruck, dass das Tabu sich abschwächt und die Menschen heute mehr über die Vergangenheit und die Verbrechen an Indigenen sprechen?
Es gibt eine Spaltung zwischen den Menschen, die das Tabu aufrechterhalten und denen, die es zu überwinden versuchen. Manche sind noch immer dagegen, darüber zu sprechen, aber es schwächt sich ein bisschen ab.
Welche Veränderungen wünschst du dir?
Ich wünsche mir, dass wir zu den alten Traditionen zurückkehren. Aber wie bringt man all das zurück, wenn es niemand lehrt? Es gibt zwar Kurse für unsere Sprache Iñupiaq am College, aber vieles von unserer Kultur ist verloren gegangen. Vor allem unsere Spiritualität. Viele wissen nicht mal, dass wir vor der Kolonialisierung eine Mythologie hatten. Die Kolonialisierung hat unsere Kulturen so stark verändert, dass die Menschen vergessen haben, dass unsere Vorfahren auch Menschen waren. Uns wurde in der Schule von einem weißen Lehrer beigebracht, dass sie primitiv waren.
Unterrichten an deiner Schule vor allem Weiße?
Ja, es ist eine gewöhnliche staatliche Schule, und obwohl in Utqiaġvik mehrheitlich Iñupiat leben, sind die allermeisten Lehrerinnen nicht mal People of Color. Wir brauchen Iñupiaq-Lehrer*innen, die unsere Geschichte zurückbringen können. Genau so eine Lehrerin möchte ich später sein. Ich wollte zuerst kein Vorbild sein. Aber inzwischen denke ich anders, weil ich bemerkt habe, dass ich selbst nie Vorbilder hatte.
* Wenn Ihre Gedanken darum kreisen, sich das Leben zu nehmen, sprechen Sie mit Freunden und Familie darüber. Hilfe bietet auch die Telefonseelsorge. Sie ist anonym, kostenlos und rund um die Uhr erreichbar – unter 0800/111 0 111 und 0800/111 0 222. Auch eine Beratung über E-Mail ist möglich.
Das Interview ist mit Unterstützung des Transatlantic Media Fellowships der Heinrich-Böll-Stiftung in Washington entstanden.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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