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Auftauender Permafrost: Wenn die Küsten ins Meer rutschen
Die Arktis verliert aufgrund des Klimawandels Tausende Quadratkilometer Landmasse
Vergegenwärtigen wir uns: Ein Drittel aller Küsten weltweit liegen in der Arktis. Sie bestehen aus eisreichem Boden, der bis in große Tiefen gefroren ist, jedoch wegen der steigenden Temperaturen zunehmend stärker taut und Klimagase freisetzt. Dennoch ist bislang weder genau bekannt, welche Konsequenzen das für das Klima und die Meere hat noch welche Folgen die Menschen vor Ort zu erwarten haben. Die Küsten sind sozusagen der Lackmusstreifen für die Auswirkungen des Klimawandels.
Mehr als elf Millionen Euro hat die Europäische Union zur Verfügung gestellt, damit die Auswirkungen des Klimawandels auf die Küsten der Arktis erforscht werden können. Das Projekt »Nunataryuk«, was in der Sprache der in Kanada lebenden Inuvialut so viel heißt wie »vom Land zur See«, war für fünf Jahre geplant. Es musste wegen der Corona-Pandemie um ein Jahr verlängert werden. Im Dezember 2023 wurde es endlich abgeschlossen.
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Am Nunataryuk-Projekt waren 27 Forschungseinrichtungen beteiligt. Es wurde vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI), insbesondere von dessen Sektion Permafrost in Potsdam koordiniert. Primus inter Pares war der Geomorphologe und Permafrostforscher Hugues Lantuit. Dass die arktische Küste etwa einen halben Meter pro Jahr ans Meer verlieren, galt vor zehn Jahren als globaler Durchschnitt, sagt er. »Aber es gibt Orte mit weit höheren Verlusten. Etwa Stokes Point im Nordwesten Kanadas. Dort betrug die jährliche Erosionsrate in einem besonders gefährdeten Bereich zwischen 1996 und 2007 zwei Meter, jetzt liegen wir bei 7,6 Meter pro Jahr.«
Und Stokes Point ist ein Ort mit einer Radarstation und einer Landebahn, die wegen der Küstenerosion immer kürzer wird. Solche Beispiele findet man fast überall, etwa an der sibirischen Laptewsee, in Alaska oder auf Spitzbergen. Die Gründe liegen auf der Hand: Durch die Erhöhung der Jahresmitteltemperatur zieht sich das Meereis, das die Küsten schützt, zurück. Dadurch verlängert sich die Sommersaison, die Wellen schlagen länger und höher gegen die Küste, das Meerwasser erwärmt sich, auch die Temperaturen des Permafrostbodens an Land nehmen zu. Dass sich die Erosion der Küsten derart beschleunigt, habe die Forscher überrascht, sagt Lantuit. »Stellen Sie sich vor, ein Küstenabschnitt an der Ost- oder Nordsee würde sich Jahr für Jahr fünf Meter zurückziehen!«
Im Rahmen des Nunataryuk-Projekts haben die Potsdamer Permafrostforscher, ausgehend von den Daten seit 1900 und der gegenwärtigen Entwicklung, die künftige Küstenerosion bis ins Jahr 2100 modelliert. Es gibt ein optimistisches Szenario und eine weniger günstige Berechnung für den Fall, dass die Menschheit nichts unternimmt und alles so weiterläuft wie bisher. Die gruselige Variante sagt eine Verdreifachung der Küstenerosion voraus. In zehn Jahren würde die globale Erosion dreißig Meter im Jahr betragen, in hundert Jahren 300 Meter. Allerdings gibt es schon heute lokale »Hotspots«, die solche Raten erreichen. Dafür, wie viele Quadratkilometer Verlust an Landmasse das zur Folge hat, gibt es noch keine zuverlässige Extrapolation.
Erosion gefährdet die Infrastruktur
Die Arbeitsgruppe um Hugues Lantuit hat all diese Vorgänge intensiv auf der Herschelinsel im Nordwesten Kanadas und in umliegenden Gemeinden untersucht. Oft sprechen die Wissenschaftler mit den Bewohnern, denn das war die zweite Komponente der Erosionsforschung: Welche Gefahren sehen die Leute vor Ort? Welche Vorgänge hat die Forschung vielleicht übersehen oder nicht ernst genug genommen? Was kann zum Schutz der Infrastruktur getan werden? Deshalb beteiligten sich an »Nunataryuk« auch Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Ingenieure. Vor allem Ethnologen der Universität Wien haben die Einwohner nach ihren Erkenntnissen und Befindlichkeiten befragt. Die Ergebnisse flossen in entsprechende Empfehlungen ein.
Wie existenziell die Gefährdung sein kann, zeigt sich an der großen Küstensiedlung Tuktoyaktuk an der Beaufortsee, die teilweise durch massiven Beton geschützt werden musste. Trotzdem wurden manche Häuser zerstört; man sieht die leeren Flächen. Oder es gibt durch die Erosion der Küste Sturmfluten, die den ganzen Ort unter Wasser setzen. Gebäude kippen, werden verschoben, Leitungen brechen.
Dass Lantuit vornehmlich in diesen Regionen zugange ist, hat sich mehr oder weniger zufällig ergeben. Der in Claye-Souilly aufgewachsene Franzose hat in Kanada studiert. An der Potsdamer Dependance des AWI angestellt, schrieb er seine Doktorarbeit. Der Plan war, nach Sibirien zu gehen, aber die hinlänglich bekannte russische Bürokratie verweigerte die Einreise. Anruf in Kanada. Dort war er gern gesehen. So avancierte die Permafrostforschung in der Umgebung des Mackenzie-Deltas zu einem Standbein der Potsdamer Kollegen. Andere Mitstreiter konzentrieren sich, von der Station Bykowski ausgehend, auf Sibirien.
Mitunter wird gefragt, warum die EU derart horrende Mittel für Permafrostforschung freigibt. Hinzu kommt, dass die Logistik für die Expeditionen vom AWI bezahlt wird – letztlich alles Steuergelder. Sind diese Ausgaben angesichts hiesiger Investitionsnot sinnvoll? Unbedingt. Zum einen wissen wir, dass alle Folgen der Klimaerwärmung, wo immer sie auftreten, globale Auswirkungen haben, also auch unser Leben in mittleren Breiten beeinflussen. Zusätzlich sieht Hugues Lantuit einen politischen Zusammenhang. Schon die Dynamik des Wettbewerbs der Systeme in den 1960er bis 1980er Jahren habe die Weichen für die deutsche Polarforschung gestellt. Die DDR war mit umfangreichen Messprogrammen in die Antarktis eingestiegen. Die Bundesrepublik antwortete zeitverzögert mit ihrer starken Präsenz im Norden und Süden.
Forschung als Mittel der Diplomatie
»Heutzutage ist Polarforschung auch ein Instrument der Soft-Diplomatie«, sagt Lantuit. Die Arktis hat noch politisch offene Verflechtungen. Es gibt den Arktischen Rat der Anrainerstaaten, der jedoch keine bindenden Entscheidungen beschließt; die sind den jeweiligen Parlamenten vorbehalten. Aber auf dessen Empfehlungen haben nicht-arktische Länder einen gewissen Einfluss, wenn sie bedeutsame wissenschaftliche Leistungen beitragen. Deutschland hat einen Beobachterstatus im Rat und konnte sich aufgrund seiner präzisen, streng faktenbasierten Forschung im Sinne der Umwelt und des Wohlbefindens der Bevölkerung recht gut positionieren. Die Erkenntnisse und Empfehlungen der Wissenschaftler werden über das Auswärtige Amt in die Beratungen des Arktischen Rates eingebracht.
Dass diese Inputs eine akribische Detailarbeit voraussetzen, macht Lantuit am Beispiel der Küstenerosion deutlich. Der Permafrost an Land enthält viele über Jahrtausende gespeicherte organische Verbindungen. Taut er auf, entweichen Kohlendioxid und Methan in die Atmosphäre und treiben die Klimaerwärmung weiter an; das ist bekannt. Brechen Küstenbereiche ab, gelangt der Boden als Sediment ins Meer. Gängige Meinung war: Dort bleibt alles mehr oder weniger reaktionslos liegen oder wird weitertransportiert. Nun haben die Geowissenschaftler Proben entnommen und über den Zeitraum der eisfreien Sommersaison gemessen, wie viel CO2 freigesetzt wird. Das Ergebnis war frappierend: Wenn Permafrost ins Meerwasser gerät, entweicht vermutlich bis zu dreimal so viel Kohlendioxid wie an der Luft.
»Mit Verallgemeinerungen sind wir vorsichtig, denn es ist ein Laborexperiment«, sagt Lantuit. »Doch dieser Prozess war selbst für Spezialisten was Neues. Die eingetragenen Mikroben und jene, die im Wasser ohnehin vorhanden sind, setzen die Kohlenstoffverbindungen sofort um. Auch Meeressediment kann eine Quelle von Treibhausgasen sein. Zum anderen trägt der erhöhte Kohlenstoffanteil dazu bei, dass die Meere versauern. In der Arktis liegt der pH-Wert knapp an der Grenze, an der Lebewesen ihre kalkigen Skelette und Schalen nicht mehr aufbauen können oder das Carbonat der Schutzhüllen sich auflöst.«
Tauende Böden geben Schadstoffe frei
Das Alfred-Wegener-Institut hat den Zuschlag bekommen für ein neues von der EU gefördertes Projekt. Es konzentriert sich auf die Freisetzung von Schadstoffen durch die Erosion der Dauerfrostböden und deren Folgen für die Gesundheit der Bevölkerung. Wenn der Untergrund aufweicht, kann es zum Zusammenbruch von Industrieanlagen kommen. Bisher gefrorene Deponien tauen auf, Schadstoffe gelangen in die Umwelt, ins Wasser und in die Nahrungskette. Beispielsweise Quecksilber in das Fleisch der Belugawale – gewissermaßen die Schweine der kanadischen und grönländischen Küche. Durch das Quecksilber sind die Krebsraten der Inuit-Frauen höher als anderswo. Es geht darum, die Altlasten der Industrie zu erfassen. Nach einer ersten Studie gibt es etwa 15 000 belastete Flächen, von denen künftig ein größeres Risiko ausgehen könnte.
Hugues Lantuit wird das Projekt wieder leiten. »Wir müssen die Stoffflüsse erkunden und die Gefahren abschätzen, die sie verursachen – ein schwieriges, auch kostenaufwendiges Umweltproblem, denn das Interesse an wirtschaftlichen Aktivitäten wird zunehmen«, sagt Lantuit. Und zitiert, sehr pragmatisch, Theodor Fontane: »Ein weites Feld.«
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