»Arm & trotzdem«: Prominente gegen die Betroffenheitsdebatte

Der Podcast »Arm & trotzdem« spricht über ein Thema, das in Deutschland meist verschwiegen wird: Armut

  • Susanne Gietl
  • Lesedauer: 4 Min.
Steffi Kim und Falk Schacht sprechen mit Gästen darüber, wie es sich anfühlt, im Wohlstandsdeutschland in Armut aufzuwachsen.
Steffi Kim und Falk Schacht sprechen mit Gästen darüber, wie es sich anfühlt, im Wohlstandsdeutschland in Armut aufzuwachsen.

Über Geld spricht man nicht. Kommunikationsberaterin Steffi Kim und Musikjournalist Falk Schacht waren seit 17 Jahren befreundet, als sie feststellten, dass sie zwar beide in Armut aufgewachsen sind, aber nie ein Wort darüber verloren hatten. Also starteten sie am 17. Oktober, dem Tag der Armut, den Podcast »Arm & trotzdem«. Den Titel wählten sie frei nach dem Motto: »Wir waren arm und trotzdem reden wir darüber.«

In Deutschland lebten im Jahr 2021 laut Angaben des Paritätischen Gesamtverbands 14,1 Millionen Menschen in Armut oder waren davon bedroht, umgerechnet also jeder Sechste. Das Bundesamt für Statistik nennt sogar eine höhere Zahl, knapp 17,3 Millionen Menschen. 2022 lag der Wert noch etwas darüber.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Steffi Kim und Falk Schacht machen die Zahlen erlebbar, gehen rein ins echte Leben. Sie fragen ihre Gäste, die allesamt mit wenig Geld aufgewachsen sind und den Absprung aus ihrer prekären Situation geschafft haben: Wie fühlt es sich an, im Wohlstandsdeutschland in Armut aufzuwachsen? Zu Gast sind Politikerin Sarah-Lee Heinrich, Beauty-Influencerin Hatice Schmidt, Moderatorin Janin Ullmann, Ex-Fußballnationalspieler Marcell Jansen und Autor Olivier David. Nach jeder Folge reflektieren Kim und Schacht über den Talk. In den Gesprächen versteht man, dass alle der Gedanke an die eigene Armut wahrscheinlich nie loslassen wird.

Jede der fünf Folgen hat einen anderen Fokus. Kim und Schacht sprechen mit ihren Gästen über Gesundheit, Politik und Bildung, über Gewalt und Aggressionen und ihre Erfahrungen in Kindheitstagen. Schriftsteller Olivier David kann sich nicht an seine jüngste Kindheit erinnern, weil er sie bis heute verdrängt hat. Offen erzählt Beauty-Influencerin Hatice Schmidt über ihre harte Jugend in Neukölln. Ihr bester Freund wurde bei einer Rangelei auf dem Schulhof abgestochen, zu Hause schlief sie statt in einem Bett auf Wolldecken. Eine Puppe besaß sie nicht, ihren einzigen Teddy köpfte ihr Bruder, und ihre Eltern zwangen sie, für eine bessere Zukunft zu lernen. Schmidt wusste schon früh, dass sie ein anderes Leben haben möchte, und suchte sich Zufluchtsorte.

2022 veröffentlichte David sein Buch »Keine Aufstiegsgeschichte: Warum Armut psychisch krank macht«. Seine Mutter kämpfte sich alleinerziehend durchs Leben. Da sie vermutete, psychisch krank zu sein, ging sie nicht zum Arzt, weil sie Angst hatte, ihre Kinder zu verlieren. Wegen Depressionen und Panikattacken begann David eine Therapie. Armut per se sorge für Stress, der zu psychischen Problemlagen führe, so David. Er verlangt keine Betroffenheitsdebatte in der Öffentlichkeit, sondern »Chancen und Knete«, damit Menschen, ihren Weg raus aus der Armut zu finden.

»Arm & trotzdem« ist kein Mitleids-Talk, stattdessen versuchen die jeweiligen Gäste wie auch das Moderatoren-Duo zu verstehen, was sie damals erlebt haben. Sie analysieren Situationen aus der Vergangenheit und Gegenwart, finden Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Auch Marcell Jansen, mittlerweile Präsident des Hamburger SV, kommt zu Wort. Seine Eltern schirmten Jansen von ihrer Armut ab. Heute sagt er: »Ich bin schon immer reich gewesen.«

Was anfangs widersprüchlich klingt, wird im Laufe der Podcast-Folge klar. Wollte sich Jansen als Nachwuchsspieler neue Fußballschuhe kaufen, dann erklärte ihm sein Vater sachlich, dass es eben nicht auf den Schuh ankomme, »sondern auf den, der da drinsteckt«. Marcell Jansen wurde später Nationalspieler. Da er gesehen hatte, wie hart seine Eltern arbeiten mussten, plädiert er für ein ganzheitliches Gesundheitssystem und betreibt in Hamburg mehrere Sanitätshäuser.

Von Sarah Lee Heinrich, selbst Hartz IV-Empfängerin erfährt man, wie sie im Sozialkundeunterricht die Schattenseiten der Hartz-IV-Gesetze kennenlernte. Sie begann sich politisch zu engagieren. Bis Oktober 2023 war Heinrich Bundessprecherin der Grünen Jugend.

In der letzten Folge hat Falk Schacht mit Moderatorin Janin Ullmann eine Kollegin eingeladen. Ullmann wuchs in einem DDR-Plattenbau auf. Sie fand in der Hip-Hop-Szene Halt. Als sie per Zufall vom Viva-Casting erfuhr, änderte sich ihr Leben schlagartig. Schacht erinnert sich daran, wie er sich mit Ullmann das Taxi teilte und sich mit ihr sofort verbunden fühlte. Dass sie aus ähnlichen Verhältnissen stammten, wussten sie nicht. Diese Verbundenheit spürt man in allen Podcast-Folgen. Sie berühren.

»Arm & trotzdem« ist auf allen gängigen Podcast-Plattformen und in der ARD-Audiothek abrufbar.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -