Kein Kinderheim ersetzt ein Elternhaus

Das sogenannte Kindergefängnis Bad Freienwalde und die Verhältnisse in der DDR-Heimerziehung

Außenministerin Annalena Baerbock und Bundestagsvizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt (beide Grüne) sind schon dort gewesen, auch Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) und andere Politiker. Vor dem Polizeirevier, im alten Amtsgerichsgefängnis von Bad Freienwalde, gab es von 1968 bis 1987 ein Durchgangsheim. Weil es für diesen Zweck in jenen Jahren nicht grundlegend umgebaut wurde, sondern die Fenster vergittert blieben und die Heimkinder in Zellen mit Kübeln für die Notdurft lebten, sprechen ehemalige Insassen vom »Kindergefängnis«. So auch die Bezeichnung auf einem Ende 2017 eingeweihten Mahnmal vor dem Gebäude in der Adolf-Bräutigam-Straße.

Obwohl dieser Ort nicht typisch ist für die rund 500 Kinderheime der DDR, muss er regelmäßig dafür herhalten, um den angeblich grundsätzlich unmenschlichen Umgang dieses Staates mit unangepassten Heranwachsenden zu belegen. So sagte Evelyn Zupke, Bundesbeauftragte für die Opfer der SED-Diktatur, vor einem Jahr bei einem Besuch: »Jugendheime waren insgesamt ein Repressionsinstrument des SED-Regimes.«

Das sogenannte Kindergefängnis sei nicht einmal typisch für die Durchgangsheime, von denen einstmals jeder der 15 Bezirke eines hatte, versichert indessen Werner Köttnitz. Das Heim in Bad Freienwalde habe er allerdings nie besucht, stellt der 88-Jährige klar. Aber andere Durchgangsheime hat er besichtigt. Sie dienten dazu, Kinder und Jugendliche vorübergehend unterzubringen, bis ein regulärer Heimplatz für sie frei wurde. Manchmal dauerte das Monate, obwohl es viel schneller gehen sollte.

Köttnitz war viele Jahre Sektorenleiter Jugendkriminalität bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR und hatte auch vorher in seinem Berufsleben mit dem Thema zu tun. Sein Lebensweg ist gar nicht ungewöhnlich für einen DDR-Kader. Köttnitz ist in Ostthüringen in einer armen Familie aufgewachsen. Wie er sagt, ist sein Vater 1944 als Soldat im Zweiten Weltkrieg »rücklings erschossen« worden – offensichtlich beim Desertieren. Der Vater soll vorher angekündigt haben: »Ich haue ab!«

Nach der 8. Klasse ging Werner Köttnitz von der Schule ab und begann 1950 eine Lehre als Maschinenschlosser. Er hätte Abitur machen können. Doch dann hätte er früh um fünf Uhr nach Altenburg aufbrechen müssen und wäre erst spät abends zuhause gewesen. Das ging nicht. Weil der Vater im Krieg geblieben war, musste der Sohn der Mutter helfen und beispielsweise das Vieh füttern. 50 Kaninchen und 20 Hühner hielt seine Familie. Als der Westen keinen Stahl mehr lieferte, verlor Köttnitz 1953 seine Arbeit in einer Maschinenfabrik und wartete zunächst Landmaschinen. Schließlich wurde er mit 17 Jahren Pionierleiter in einer Schule.

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Damals bekam er den Auftrag, sich um straffällig gewordene junge Leute zu kümmern. Wenn diese vor Gericht standen, habe immer ein Vertreter des Jugendverbands FDJ dabei sein müssen, berichtet Köttnitz. Er sprach bei den Arbeitsstellen der Angeklagten vor und redete sogar mit den Pfarrern in den Heimatdörfern. Meistens sei es bloß um Diebstähle gegangen und nie um schwere Delikte. »Das waren keine schweren Jungs.«

Irgendwann sprach ihn ein Staatsanwalt an: »Wir brauchen Juristen. Du gehst zum Studium.« So wurde er nach Potsdam-Babelsberg an die Akademie für Staats- und Rechtswissenschaften delegiert. Er musste eine Sondereignungsprüfung ablegen, weil er kein Abitur hatte. »Mir ist das unwahrscheinlich schwergefallen, zumindest die ersten zwei Jahre«, erinnert sich der 88-Jährige an sein Studium. »Aber ich habe es gepackt und mein Examen gut bestanden.«

So wurde er Jurist. Köttnitz erinnert sich noch plastisch an einen Fall, wo ein 14-Jähriger wiederholt Kleidung in Geschäften gestohlen hatte. Es stellte sich heraus, dass die Mutter Alkoholikerin war und den Sohn vernachlässigte. Berge schmutziger Wäsche lagen in der Wohnung. Der 14-Jährige war in der Schule verspottet worden, weil er stank. Nur deswegen hatte er gestohlen, um hin und wieder frische Sachen zu haben. Beim Umschauen in der völlig verdreckten Wohnung sei klar gewesen: Der Junge muss sofort hier raus.

Für solche Fälle seien Durchgangsheime eingerichtet worden. »Manche Eltern waren froh, ihre Kinder los zu sein«, bedauert Köttnitz. »Die Kinder haben mir leid getan.« Denn ihm war völlig klar: Kein noch so gutes Heim kann ein gutes Elternhaus ersetzen. »Aber für manche Kinder war es dort besser als zuhause.«

Der 88-Jährige erinnert sich, dass Volksbildungsministerin Margot Honecker (SED) die Durchgangsheime gern in die Verantwortung des Justizministeriums übergeben hätte. Das sei aber abgelehnt worden mit der Begründung, dass es sich dabei um pädagogische Einrichtungen handele und nicht um Strafanstalten.

Die Jugendkriminalität sei in der DDR ein vergleichsweise geringes Problem gewesen, betont Köttnitz. Bei den Diebstählen, um die es sich zumeist nur gehandelt habe, müssten die Ursachen berücksichtigt werden. Der ehemalige Sektorenleiter nennt zwei Beispiele. Als es in der DDR noch keine Jeanshosen zu kaufen gab, seien in Lehrlingswohnheimen oft die von Verwandten aus dem Westen geschickten Jeans gestohlen worden. Als die einheimische Textilindustrie diese Versorgungslücke schloss, habe das schlagartig fast völlig aufgehört. Genauso sei es bei Kofferradios gewesen.

Bei Vorträgen wurde der Staatsanwalt immer wieder gefragt, warum dieser oder jener Dieb nicht eingesperrt worden sei. Da habe er beschwichtigen müssen: »Gefängnis ist das letzte Mittel.« Jeden wegen eines Fehltritts gleich wegzusperren, das wäre völlig unverhältnismäßig gewesen. Köttnitz ist fest überzeugt: »Jeder hat noch eine Chance verdient.« Mit einer Geste zeigt er, das Leben verlaufe nicht als gerade Linie. Es gebe ein Auf und Ab.

Für ihn selbst war mit der deutschen Einheit am 3. Oktober 1990 Schluss in der Generalstaatsanwaltschaft. Da war er erst Anfang 50 und noch nicht in dem Alter, in Rente zu gehen. Er machte dann Akquise für Werbetafeln, verkaufte auf einem Markt Rollläden und vertrieb auf Provisionsbasis Geräte für Fitnessstudios. Mit der Justiz habe er in den Bundesrepublik nichts mehr zu tun haben wollen, sagt er.

»Wir waren von der Außenwelt isoliert«, beklagte im Januar vergangenen Jahres Roland Herrmann vom Verein Kindergefängnis Bad Freienwalde, den ehemalige Insassen gegründet haben. Keines der Durchgangsheime sei wie das in Bad Freienwalde gewesen, erzählte er. Ende der 80er Jahre hätten die Verantwortlichen endlich erkannt, dass ein altes Gefängnis als Kinderheim ungeeignet gewesen sei. 1987 sei das Heim aus dem Gebäude herausgenommen und noch in der DDR seien die Gitter von den Fenstern entfernt worden, erläuterte Herrmann. In der Stadt ist die Bezeichnung Kindergefängnis umstritten, auch Bürgermeister Ralf Lehmann (CDU) lehnte sie ab.

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