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Trügerische Idylle am »roten Strand« in Taiwan

China entsendet täglich Kriegsflugzeuge und Schiffe in das Gebiet rund um die Insel Taiwan

  • Fabian Kretschmer, Taipeh
  • Lesedauer: 6 Min.
Friedrich Wang betreibt einen Militär-Shop in Taiwans Hauptstadt Taipeh.
Friedrich Wang betreibt einen Militär-Shop in Taiwans Hauptstadt Taipeh.

Der Bali-Strand am nördlichsten Zipfel Taiwans hat nichts zu tun mit der berühmten indonesischen Ferieninsel, doch pittoresk ist der Landstrich allemal: Vom blauen Himmel strahlt die pralle Vormittagssonne auf den feinkörnigen Sand, sanfte Wellen spülen weiße Schaumkronen an Land. Doch die Idylle trügt: Nur wenige Kilometer westlich liegt der internationale Flughafen Taoyuan, ein paar Autominuten dahinter der Hafen von Taipeh. Und keinen Steinwurf entfernt führt die Mündung des Tamsui-Flusses bis ins Zentrum der taiwanischen Hauptstadt. Es gäbe für Chinas Volksbefreiungsarmee keinen strategisch besseren Ort für eine amphibische Invasion, also eine Landung mit See- und Landstreitkräften. Als »roter Strand« wird er deshalb auf Taiwans militärischen Landkarten bezeichnet.

»Den Begriff habe ich ehrlich gesagt noch nicht gehört. Aber mir ist bewusst: Wenn es zum Angriff kommen sollte, dann wird es hier passieren«, sagt Herr Li. Der 62-Jährige sitzt entspannt vor dem Kofferraum seines Pickup-Trucks, die Angel tief in den Sand gesteckt, und wartet darauf, dass der nächste Fisch anbeißt.

Seit seiner Jugend kommt er regelmäßig an den Strand. Nur wenn das Militär seine jährlichen Verteidigungsübungen abhält, wird die Gegend zum Sperrgebiet. Mit der rechten Hand zeigt Herr Li auf die dicht bewaldeten Hänge, die sich hinter dem Strand erheben: »Die Militärbunker sind dort versteckt in den Hügeln, man soll sie nicht direkt sehen können«. Es handelt sich um sogenannte Pillboxen: steinerne Bunker mit Schießscharten, wie sie bereits von den Briten im Zweiten Weltkrieg errichtet wurden – aus Angst vor einer deutschen Invasion.

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Seit Jahrzehnten bereits lodert der Konflikt um die demokratisch regierte Insel, die für Peking nichts weiter ist als eine abtrünnige Provinz. Im Wochentakt wiederholt Chinas Staatsoberhaupt Xi Jinping, dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis Taiwan »wiedervereinigt« werde – notfalls auch mithilfe militärischen Zwangs.

Dass der Konflikt längst nicht mehr nur mit Worten ausgetragen wird, zeigte sich diese Woche erneut: Taiwans Armee registrierte wiederholt chinesische Überwachungs- und Küstenwachschiffe, die sich bis an die vorgelagerte Insel Kinmen vorwagten – einem Eiland, das zwar zu Taiwan gehört, doch nur drei Kilometer vom chinesischen Festland entfernt liegt. Seit dort Mitte des Monats zwei chinesische Fischer kenterten und ertranken, hat die Volksbefreiungsarmee begonnen, eine über 30 Jahre respektierte Grenzlinie zu ignorieren. Es gebe keine »verbotenen oder gesperrten Gewässer«, erklärte das Büro für Taiwan-Angelegenheiten am Wochenende.

Geradezu beispielhaft wendet China die sprichwörtliche Salami-Taktik an: Scheibe für Scheibe eskaliert Peking die Lage in homöopathischen Dosen, sodass die Verschiebungen des Status Quo meist erst aus der Vogelperspektive sichtbar werden. Täglich entsendet die Volksbefreiungsarmee Kriegsflugzeuge, Schiffe und Ballons rund um die Insel – so oft, dass dies selbst den großen Nachrichtenagenturen nur mehr selten eine Meldung wert ist. Doch für Taiwans Soldaten wird der Alltag immer zermürbender: Stets in Alarmbereitschaft können sie sich nie sicher sein, ob beim nächsten Einsatz nicht vielleicht doch der Ernstfall droht.

»Einige Leute denken, ein Krieg ist weit entfernt. Sie denken, es wird nicht passieren, weil es auch in der Vergangenheit nicht dazu gekommen ist. Doch das ist eine Illusion«, sagt Marco Ho, Mitbegründer der Kuma-Academy. Der 52-Jährige empfängt im funktional eingerichteten Workshop-Raum in Taipeh, wo jede Woche normale Bürger für den Ernstfall vorbereitet werden; die Kurse reichen von Anti-Propaganda-Training bis zu Erster Hilfe. Über eine halbe Million Menschen hat die zivilgesellschaftliche Initiative bereits erreicht.

»Weil China derzeit eigene Probleme hat, wirtschaftlich und in der Gesellschaft, wird es durchaus gefährlicher für Taiwan«, sagt Ho. Das Regime in Peking könnte einen äußeren Konflikt eskalieren, um von heimischen Missständen abzulenken – zumal Xi Jinping auch eine Rechtfertigung dafür braucht, warum er als erster Staatschef Chinas seit Mao Zedong für eine dritte Amtszeit an der Macht bleibt. Marco Ho glaubt: »Ein Grund, warum Xi mit dieser Tradition gebrochen hat, ist, Taiwan zurückzuholen.«

Beobachter halten ein solches Szenario derzeit für eher unwahrscheinlich. Laut einer Umfrage des Washingtoner Center for Strategic and International Studies glauben nur 27 Prozent der US- und 17 Prozent der taiwanesischen Experten, dass China eine amphibische Invasion durchführen könnte. Diese ist schließlich militärisch extrem diffizil – trotz der rasanten Aufrüstung der Volksbefreiungsarmee.

Doch im Ernstfall könnte Taiwan wohl nur überleben, wenn die USA direkt in den Konflikt eingreifen würden. Bis vor kurzem verfolgte Washington stets eine strategische Ambiguität, die unter Joe Biden eindeutig geworden ist: So offen wie kein US-Präsident zuvor hat der Demokrat in öffentlichen Interviews gesagt, dass man mit eigenen Truppen die Insel verteidigen würde. In wenigen Monaten könnte jedoch Donald Trump im Weißen Haus sitzen: ein unberechenbarer Politiker, der von praktisch allen US-Alliierten in Ostasien als unzuverlässiger Partner wahrgenommen wird.

»Viele in Taiwan sorgen sich zwar um die Situation zwischen Taiwan und China. Doch vor allem die jungen Leute sehen es nicht als echte Gefahr an. Denn sie denken, dass die USA ohnehin zu Hilfe kommen werden«, sagt der pensionierte Oberleutnant Friedrich Wang. »Ich denke jedoch, dass wir uns selbst vorbereiten müssen, wenn wir Frieden wollen.«

Daher hat Wang einen Militär-Laden in Taipeh eröffnet. An den Wänden hängen Maschinengewehre, in Pappboxen stapeln sich Granaten und schutzsichere Westen. Natürlich handele es sich um Softairwaffen, die Geschosse mit Druckluft abfeuern, versichert der 47-Jährige mit breitem Lächeln. Doch die Mission von Wang ist ernst: Im zweiten Stock gibt es eine Schießanlage, auf der Kunden für den Ernstfall üben können. Es brauche schließlich eine zivile Verteidigungsmiliz, sagt er: »Wir müssen besonders die Jugend darüber aufklären, dass es einen Krieg geben kann.«

Noch zur Jahrtausendwende dachte Friedrich Wang, dass die zwei Nachbarländer sich friedlich annähern würden. Damals kamen die sozialen Medien in China auf, und mit dem Zugang zu Informationen war auch die Hoffnung auf politische Öffnungen verbunden. Doch die rigide Zensur und zunehmende Repressionen haben all dies zunichtegemacht. Seither glaubt Wang, dass es eine deutliche Botschaft braucht: »Wir müssen laut sein und klar sagen: Wenn ihr uns angreift, schlagen wir zurück. Ich will, dass sie es sich zweimal überlegen.«

Doch im nächsten Moment hält Wang inne: Er habe sowohl Verwandte, die in die USA ausgewandert und beim Militär sind, als auch Familie in China bei der Volksbefreiungsarmee. »Nun kann es sein, dass beide nach Taiwan kommen, um gegeneinander zu kämpfen«, sagt er. Und fügt hinzu: »Natürlich will niemand einen Krieg.«

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