Arbeitsmigration nach Russland: Tadschikistan ohne Männer

Trotz Krieges und Sanktionen zieht es Tadschiken zum Arbeiten nach Russland. Darunter leiden ihre Frauen und Familien

  • Philipp Hedemann, Gharm
  • Lesedauer: 7 Min.
Madina Hasanowa will mit Hilfe der Deutschen Welthungerhilfe eine Ausbildung als Schneiderin beginnen, um so für sich und ihre Mutter sorgen zu können.
Madina Hasanowa will mit Hilfe der Deutschen Welthungerhilfe eine Ausbildung als Schneiderin beginnen, um so für sich und ihre Mutter sorgen zu können.

»Vor zweieinhalb Jahren ging er nach Russland. Seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Er hat mich einfach sitzenlassen. Vielleicht hat er längst eine Neue. Ich kümmere mich seitdem alleine um unseren Sohn. Ich schaffe das.« Guliston Nematowa fokussiert ihren Blick auf einen imaginären Punkt auf dem Fußboden eines karg eingerichteten Raumes eines kalten Hauses im Hochland von Tadschikistan. Ihre Worte sollen stark klingen, doch sie werden von Wut, Erschöpfung und Angst überlagert. Der 29-Jährigen geht es wie Hunderttausenden Frauen im 9,2 Millionen-Einwohner-Staat Tadschikistan. Weil es in der ärmsten der ehemaligen Sowjetrepubliken kaum gut bezahlte Jobs gibt, arbeiten viele tadschikische Männer in Russland. Ihre Überweisungen machen mehr als ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts aus und halten das von Langzeitherrscher Emomalij Rahmon autoritär geführte Land über Wasser. Die Arbeitsmigration reißt jedoch Familien auseinander und treibt viele Frauen und Mütter im Land ohne Männer zur Verzweiflung.

»Ich dachte natürlich, dass er bald zurückkommen würde. Oder zumindest Geld schicken würde. Schließlich war unser gemeinsamer Sohn doch erst ein halbes Jahr alt, als er ging«, sagt Nematowa. Sie weiß noch nicht, was sie ihrem Sohn erzählen soll, wenn er sie eines Tages nach seinem Vater fragen wird. Schließlich kennt sie die Antworten auf die Fragen selbst nicht. »Warum hat Papa mich und dich alleine gelassen?«, »Wo ist er?«, »Was arbeitet er?« – vor allem über die erste Frage will Nematowa nicht nachdenken. Zu den anderen beiden kann sie nur spekulieren. Wahrscheinlich schuftet er als ungelernter Arbeiter auf einer Baustelle irgendwo zwischen Sankt Petersburg und Wladiwostok.

Fast jeder Tadschike hat schon im Ausland gearbeitet

Nach Angaben des tadschikischen Arbeits- und Migrationsministeriums zogen alleine im Jahr 2022 fast 750 000 Menschen zum Arbeiten von Tadschikistan nach Russland, 2023 waren es 627 000. Nach Schätzungen arbeiten bis zu 80 Prozent der tadschikischen Männer zwischen 19 und 50 Jahren zumindest zeitweise im Ausland. Dort verdienen sie meist ein Vielfaches dessen, was sie in Tadschikistan erhalten könnten – falls sie im kargen Hochgebirgsland überhaupt einen Job finden. Im Winter stehen viele Baustellen in Russland still und die meisten Arbeitsmigranten kehren zu ihren Familien zurück. Wenn sie nach ein paar Wochen oder Monaten wieder nach Russland aufbrechen, sind ihre Frauen oft schwanger.

Für die Frauen stellt die Mehrfachbelastung eine enorme Herausforderung dar. »Viele von ihnen leiden vermutlich unter nicht diagnostizierten Depressionen. Dies wirkt sich auch auf die Kinder aus, die zudem ohne Vaterfigur aufwachsen«, sagt Annett Leuteritz, Programmdirektorin der Deutschen Welthungerhilfe in Tadschikistan. Die zurückbleibenden Frauen und Kinder leben meist bei ihren Schwiegereltern. Oft ziehen die Großeltern die Kinder auf, damit die Mütter Geld verdienen können. Denn es kommt oft vor, dass die Männer kein Geld aus Russland schicken, da sie zunächst Schulden für das Flugticket begleichen und eigene Kosten decken müssen oder eine neue Partnerin finden. »In vielen Fällen stehen die Frauen dann vor der Frage, ob die Schwiegereltern sie weiter bei sich wohnen lassen oder sie sich mit den Kindern eine neue Existenz aufbauen müssen«, erklärt Leuteritz. Weil die Frauen sich dann oft ganz allein um Kinder, Haushalt und Landwirtschaft kümmern müssen, bleibt ihnen zudem keine Zeit, in ihre Ausbildung zu investieren.

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Krieg schürt Ängste vor Arbeitsplatzverlust

Seitdem Russland die Ukraine überfallen hat und mit internationalen Sanktionen belegt wurde, fragen sich viele Menschen in der ehemaligen Sowjetrepublik, wie lange die russische Wirtschaft noch auf billige Arbeitskräfte aus Tadschikistan angewiesen sein und wie sich der Wechselkurs zum tadschikischen Somoni entwickeln wird. Da zahlreiche tadschikische Arbeitsmigranten auch die russische Staatsbürgerschaft erworben haben, machen sich viele Frauen zudem große Sorgen um ihre Männer in der Ferne.

Ranogul Scharofiddinowa ist eine von ihnen. Die beiden Söhne der 60-Jährigen leben und arbeiten in Russland, einen hat sie seit Jahren nicht mehr gesehen. »Ich habe Angst, dass er zum Militärdienst einberufen wird und in der Ukraine kämpfen muss«, sagt die Bäuerin und Lehrerin aus der Kleinstadt Gharm im tadschikischen Hochland.

Frauen haben in Tadschikistan nur wenige Möglichkeiten

Doch trotz des Krieges hat Russland als Arbeitsmarkt bislang nicht an Attraktivität für tadschikische Männer eingebüßt. Manchmal werden sie bei ihrer Suche nach Arbeit auch von ihren Frauen begleitet. Weil ihre Familie es sich nicht leisten konnte, in Tadschikistan ein Hochzeitsfest auszurichten, zu dem sie über 100 Verwandte und Bekannte hätte einladen und bewirten müssen, heiratete Madina Hasanowa mit 19 Jahren in einer schmucklosen Zeremonie im sibirischen Irkutsk einen älteren tadschikischen Mann, den ihre Eltern für sie ausgesucht hatten. Weil er krank wurde, fand er in Sibirien nur selten Jobs. Seinen Frust ließ er an seiner jungen Frau aus, der er verboten hatte, selbst zu arbeiten.

Fajsiddin Jalolow und Achhmad Wahobow haben das Programm bereits absolviert und leiten mittlerweile einen gut laufenden Betrieb.
Fajsiddin Jalolow und Achhmad Wahobow haben das Programm bereits absolviert und leiten mittlerweile einen gut laufenden Betrieb.

Nach elf Monaten zerbrach die Ehe, Madina Hasanowa kehrte als Gescheiterte mit leeren Händen in ihr Geburtsdorf in Tojikobod in Zentraltadschikistan zurück, wohnt seitdem wieder bei ihren Eltern. Auf der mechanischen russischen Nähmaschine, die ihre Mutter vor mehr als 40 Jahren als Aussteuer in ihre Ehe einbrachte, näht sie Kleider, die sie an Nachbarn verkauft. Vom bescheidenen Lohn kauft sie Medikamente für ihre an Diabetes erkrankte Mutter. Deren rechtes Bein musste bereits amputiert werden, eine Krankenversicherung hat die Frau nicht.

»Madina ist so ein gutes Mädchen. Aber wir haben den falschen Mann für sie ausgesucht. Es tut mir so leid«, sagt die Mutter Subaida Sadirowa und wischt sich verstohlen Tränen von der Wange. Sie weiß, dass es im religiös-konservativen Tadschikistan für ihre geschiedene 24-jährige Tochter nicht einfach sein wird, einen Mann zu finden, zumal diese kaum etwas in die Ehe einbringen könnte. Frauen wie Madina bleibt in Tadschikistan deshalb oft nur das Schicksal der Zweitfrau. Doch das will ihre vom schlechten Gewissen geplagte Mutter unter allen Umständen verhindern. »Meine Tochter hat es nicht verdient, Zweitfrau zu sein. Sie soll einen guten Ehemann haben, der nur meine Tochter möchte.«

Deutsche Organisation will vor Ort helfen

Offiziell erkennt Tadschikistan Vielehen zwar nicht an, tatsächlich werden viele Frauen in traditionellen islamischen Trauungszeremonien jedoch trotzdem zu Zweit- oder Drittfrauen. Ohne offiziellen Trauschein haben sie allerdings weder rechtliche noch finanzielle Absicherung.

Auch um dem durch die Arbeitsmigration nach Russland verursachten Auseinanderbrechen von Familien entgegenzuwirken, Frauen zu mehr finanzieller Selbstständigkeit zu verhelfen und Männern eine gute Perspektive in ihrer Heimat zu ermöglichen, hat die Deutsche Welthungerhilfe in Tadschikistan ein Programm ins Leben gerufen, das junge Menschen in stark nachgefragten Berufen ausbildet und sie bei der Gründung eines kleinen Betriebes unterstützt. Madina Hasanowa hofft, im kommenden Jahr eine Ausbildung als Schneiderin beginnen zu können.

Erfolgreiche Existenzgründung in Tadschikistan

Fajsiddin Jalolow und Achhmad Wahobow haben das Programm bereits absolviert. Im Dorf Safedmun haben sie an einem vierwöchigen Training zum Schweißer teilgenommen, mittlerweile betreiben die beiden Freunde eine Werkstatt, in der sie unter anderem landwirtschaftliche Geräte, Öfen, Zäune, Türen, Tore und Möbel bauen und reparieren. Das Geschäft läuft gut, die beiden zahlen sich jeden Monat umgerechnet rund 340 Euro aus.

Als Eisenflechter auf Baustellen in Moskau hatte Fajsiddin Jalolow zuvor nach Abzug der Kosten für Unterkunft und Verpflegung zwar umgerechnet rund 475 Euro verdient. Doch die harte Arbeit in der Ferne hatte ihn krank gemacht. Jetzt verdient er weniger als in Russland, doch dafür ist er glücklich. Der 25-Jährige hat gerade geheiratet, möchte bald Vater werden. Er ist froh, etwas gelernt zu haben, wovon er eine Familie ernähren kann. Der zufriedene Handwerker: »Ich kenne viele Männer, die nach Russland gegangen sind, weil sie hier keine Arbeit finden konnten. Daran sind so viele Familien kaputtgegangen. Ich möchte bei meiner Frau sein und meine Kinder aufwachsen sehen.«

Die Recherche in Tadschikistan erfolgte auf Einladung der Deutschen Welthungerhilfe.

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