Rechtliche Betreuung: Sozialer Notstand droht in Frankfurt (Oder)

In Brandenburg fühlen sich Rechtliche Betreuer vom Amtsgericht Frankfurt (Oder) im Stich gelassen – und warnen vor gravierenden Folgen

Eigentlich sollte sich Enrico Siebke um die Sorgen anderer kümmern. Doch die eigenen wachsen ihm über den Kopf hinaus. »Ich weiß einfach nicht mehr, wie ich meine Rechnungen bezahlen soll«, sagt der 39-Jährige zu »nd«. Die Kosten für die Krankenkasse, für die Büromiete, für IT-Systeme, die er zum Arbeiten braucht, kann der Freiberufler nicht länger begleichen – und das, obwohl er eigentlich ganz gut verdient. Der Grund: Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) schuldet ihm rund 17 000 Euro.

Seit 2017 arbeitet Siebke als rechtlicher Betreuer. Sein Job ist es, Menschen dabei zu unterstützen, ihr Leben zu organisieren, die dazu alleine nicht mehr in der Lage sind. »Oft habe ich mit älteren Menschen ohne Angehörige zu tun. Es können aber auch einfach Kranke sein, die alleine nicht klarkommen«, erklärt er. Je nach Fall kümmert sich Siebke um bürokratische Prozesse, betreut Finanzen, unterstützt bei wichtigen Entscheidungen. Mit der Arbeit kommt große Verantwortung. Damit Betreuer*innen sie nicht missbrauchen können, unterliegen sie strengen Auflagen durch den Gesetzgeber. Gerichte entscheiden darüber, wer Anspruch auf Betreuung erhält, zur überwiegenden Mehrheit auf Wunsch der Betroffenen, manchmal aber auch gegen deren Willen. In seiner Laufbahn, sagt Siebke, sei das aber noch nicht vorgekommen.

Aufträge und Bezahlung erhalten rechtliche Betreuer*innen ebenfalls von der öffentlichen Hand. Maximal alle drei Monate können die überwiegend selbständig Tätigen ihre Vergütung bei den zuständigen Gerichten beantragen, die dann das Geld nach Prüfung auszahlen. Doch mit dem, was im Idealfall Tage dauert, hat das Amtsgericht Frankfurt (Oder) offenbar seine Probleme. »Als ich angefangen habe, waren es ein bis zwei Monate. Jetzt braucht das Gericht vier Monate und meist länger«, sagt Siebke. »Das sind zusammen mindestens sieben Monate, die ich ohne Bezahlung durchhalten muss.« Weil es sich rein rechtlich nicht um Schulden handele, könne er das Geld vom Gericht auch nicht einklagen.

Seine finanziellen Rücklagen hat der Betreuer mittlerweile aufgebraucht, die Privatinsolvenz steht ihm zufolge kurz bevor. Wenn sie eintritt, wird sich Siebke für immer einen anderen Job suchen müssen. Finanzielle Notlagen in der Biografie eines Betreuers sind rechtliches Ausschlusskriterium, um Klient*innen zu schützen. »Dann war alles umsonst, dann bin ich verbrannt«, sagt Siebke. Die Existenzsorgen begleiteten ihn mittlerweile täglich, worunter auch die Arbeit an sich leide. Persönliche Termine bei den Klient*innen habe er aus Kostengründen reduzieren müssen.

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Enrico Siebke ist kein Einzelfall: In Podelzig, ein paar Kilometer nördlich von Frankfurt (Oder), betreibt André Kuckelkorn eine Bürogemeinschaft für Betreuer*innen. Seit mehr als zwölf Jahren übt Kuckelkorn den Job schon aus. Genug Zeit, um ein Netz in der gesamten Region zu spannen, wie er »nd« erklärt. Nun nutzt der 59-Jährige seine Kontakte, damit sich betroffene Betreuer*innen untereinander organisieren können. Mittlerweile, sagt er, seien es rund 30 Personen. Gemeinsam habe man den Kontakt zum Amtsgericht und zum Brandenburger Finanzministerium gesucht, bisher ohne spürbare Verbesserungen.

Die Zustände rund um das Amtsgericht haben sich laut Kuckelkorn nach und nach verschlimmert – nicht nur für die Betreuer*innen, sondern auch für die Klient*innen selbst. Er berichtet von hilfsbedürftigen Menschen, die seit über einem Jahr auf einen Betreuerwechsel warten, von immer weniger Betreuer*innen für immer mehr Klient*innen und von Kolleg*innen, die in Frankfurt (Oder) bereits aufgegeben haben. Er selbst warte noch auf rund 30 000 Euro, habe aber lange genug gearbeitet, um sich eine umfangreiche Absicherung zu erwirtschaften. Es sind vor allem die jüngeren Kolleg*innen, die ihm Sorgen bereiten.

Einer von ihnen ist Sebastian Steiner, der wie Siebke in Kuckelkorns Bürogemeinschaft arbeitet. An der Hochschule Wismar absolviert Steiner einen Fernstudiengang zum Berufsbetreuer. Seit einem halben Jahr darf er nebenher schon Klient*innen betreuen. »Die Pflicht habe ich sozusagen schon hinter mir, es geht nur noch um die Kür«, sagt er zu »nd«. Wie die meisten habe er auf Umwegen zu dem Beruf gefunden, einen festgelegten Ausbildungsweg gebe es nicht.

Mit seinen 35 Jahren zählt Steiner zu den jüngsten Kolleg*innen in seinem Umfeld. Auf Veranstaltungen seines Fernstudiengangs komme er regelmäßig mit anderen Auszubildenden zusammen. »Die meisten kennen das Problem mit der späten Vergütung so überhaupt nicht. Die warten maximal einen Monat«, sagt Steiner. Ihm schulde das Gericht derweil schon 13 000 Euro, und das, obwohl er bisher nur rund 30 Klient*innen betreue. Bei vollberuflichen, erfahrenen Betreuer*innen seien um die 50 üblich.

»Gerade am Anfang, wenn man sich seinen Ruf noch aufbaut, ist so etwas total existenzbedrohend«, sagt Steiner. Derzeit lebt er noch von den 10 000 Euro, die er als Puffer eingeplant hat. »Das Geld sollte im Notfall für das erste Berufsjahr reichen, jetzt ist nur noch für diesen Monat genug übrig.« Die Kosten für die Ausbildung und Ausstattung eingerechnet habe er 20 000 Euro investieren müssen.

»Die Behörden werben überall um Nachwuchs, weil ein Großteil auf die Rente zugeht. Aber empfehlen würde ich es nicht«, sagt Steiner. Dabei mag er seinen Beruf eigentlich. »Wir sind das Bollwerk gegen den Reflex, diejenigen immer gleich ins Heim zu stecken, die keine Angehörigen mehr haben.« Die Klient*innen seien es letztlich, an denen jetzt alles hängen bleibe. Wenn sich keine Betreuer mehr fänden, würden die Menschen vom Gericht selbst betreut, sagt Steiner. »Und das wünsche ich wirklich niemandem.« Dabei sei eigentlich der Plan gewesen, die Hilfe zu verbessern: Mit einer Reform hatte der Bund zum Januar 2023 versucht, die Rechte der Klient*innen verstärken, zusätzliche Kontrollmaßnahmen und Qualitätsansprüche für Betreuer*innen eingeführt.

Dem Bundesverband für Berufsbetreuer*innen (BdB) sind die Probleme in Frankfurt (Oder) bekannt. Säumige Zahlungen seien besonders in östlichen Bundesländern ein Problem. »In den Gerichten ist die Priorität zur Bearbeitung einfach nicht da«, sagt Franka Rump zu »nd«. »Manchmal reichen schon zwei Krankheitsfälle aus, um den Auszahlungsprozess zum Erlahmen zu bringen.« Schon jetzt gebe es Möglichkeiten, die Abläufe zu vereinfachen, etwa durch sogenannte Dauervergütungen, einer Art Dauerauftrag. Der dafür nötige einmalige Mehraufwand würde sich auf lange Sicht lohnen, doch die Behörden stellten sich zum Teil quer. Mit digitalen Lösungsansätzen will man sich laut BdB-Sprecherin meist nicht auseinandersetzen.

Streiken, sagt Rump, sei für rechtliche Betreuer*innen schon allein aus ethischen Gründen keine Option. »Wir arbeiten schließlich mit den Schwächsten der Gesellschaft zusammen.« Ohnehin hielten sich die meisten in Kritik zurück, um es sich mit den Gerichten nicht zu verscherzen. Diese seien es schließlich, die den Betreuer*innen ihre jeweiligen Klient*innen zuwiesen. Derweil wachse der Mangel an Betreuer*innen weiter an, gerade in Brandenburg. »Viele fangen gar nicht erst an, weil man so dermaßen in Vorleistung gehen muss«, ergänzt Rump.

Das Amtsgericht Frankfurt (Oder) bestätigt auf Anfrage von »nd«, dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit der Auszahlungen zwischen vier und fünf Monaten liegt. Als Ursachen für die Verzögerungen nennt Gerichtsdirektor Peter Wolff unter anderem Umstrukturierungen nach der Reform von 2023, die Vergütungseinstufung von Betreuer*innen und sich häufende Anträge auf Daueranordnungen. Ebenso wirke sich verfahrensverzögernd aus, dass die meisten Betreuer*innen ihre Anträge in Papierform einreichten, obwohl dies auch elektronisch möglich sei.

Das Amtsgericht gibt an, die Bearbeitung der Vergütungsanträge ständig zu priorisieren. Gemessen an der Vielzahl anderer Auszahlungsverpflichtungen handele es sich bei den etwa 35 regelmäßig auftretenden Betreuer*innen um eine sehr kleine Personenzahl. Im Schnitt erwirtschafteten die Betreuer*innen mehr als 7000 Euro brutto im Monat, so Wolff. »Darüber, dass sich die Bearbeitungszeiten auf die Betreuung einzelner Personen und die Nachwuchsgewinnung negativ auswirken sollen, ist hier nichts bekannt.«

Das Brandenburger Justizministerium gibt auf Anfrage an, dass auch längerfristige Krankheitsfälle in Frankfurt (Oder) eine Rolle spielen. Generell würden Betreuungsabteilungen durch Mitarbeitende anderer Abteilungen und Gerichte unterstützt. Ein möglicher Personalmehrbedarf werde aufgrund der neuen Gesetzeslage derzeit geprüft. Der wertvollen Arbeit der Betreuer*innen sei man sich bewusst: »Im engen Austausch mit dem Geschäftsbereich arbeiten wir kontinuierlich daran, die schwierige Situation in den Betreuungsabteilungen nachhaltig zu verbessern.«

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