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Ukrainische Kunst: Die hingerichtete Renaissance

Anlässlich des anhaltenden Kriegs in der Ukraine wirft eine Ausstellung einen neuen Blick auf die Avantgarde-Kunst des Landes

  • Jens Malling
  • Lesedauer: 5 Min.
Aufbau einer neuen Gesellschaft: Oleksandr Bohomasow, »Schärfen der Sägen« (1927)
Aufbau einer neuen Gesellschaft: Oleksandr Bohomasow, »Schärfen der Sägen« (1927)

Eine Skizze von Kasymyr Malewytsch. El Lissitzkys geometrische Figuren. Und dort weiter vorne ein formidables Beispiel für den Kubofuturismus der Alexandra Exter ...

Für die Besucher*innen des Museums Belvedere in Wien öffnet sich ein Saal gefüllt mit den besten Werken von Avantgarde-Künstler*innen, die in der Ukraine gewirkt haben. Die Invasion der Ukraine durch russische Truppen im Jahr 2022 und die lange Tradition des russischen Imperialismus gegen das Land spuken überall zwischen den Werken.

Dabei spielt der russische Angriffskrieg bei der Gestaltung der Ausstellung mit dem Titel »In the Eye of the Storm – Modernismen in der Ukraine« auch eine ganz konkrete Rolle. Die Kunstschätze, die an den Wänden hängen, wurden von einheimischen Museumsmitarbeiter*innen und Fahrer*innen während eines Bombenhagels aus Kiew gerettet. Laut Kuratorin Katia Denysova spielte sich das so ab: »Unglücklicherweise wählten wir den 15. November 2022 für den Abtransport der wertvollen Fracht – einen Tag, an dem einer der schwersten Angriffe stattfand und das russische Militär Hunderte von Raketen auf ukrainische Städte abfeuerte. Sie schlugen überall ein, als die Lastwagen losfuhren, was die Reise für alle Beteiligten extrem nervenaufreibend machte. Um die Gemälde durch das vom Krieg zerrüttete Land zu eskortieren, stellte Präsident Wolodymyr Selenskyj persönlich einen Militärkonvoi zur Verfügung.«

Zu sehen ist in der Ausstellung etwa Oleksandr Bohomasows »Schärfen der Sägen« von 1927. Das Gemälde thematisiert den Versuch, eine neue Gesellschaft aufzubauen – mit der Gründung der ukrainischen Sowjetrepublik 1919 und den Bemühungen, den Sozialismus einzuführen. Als eines der zentralen Werke der Ausstellung überwältigt das Werk durch seine Komposition und seine leuchtenden gelben, blauen und violetten Schattierungen.

Der Krieg erfordert einen frischen Blick auf Bohomasows Meisterwerk und das übrige Erbe der künstlerischen Avantgarde der 1920er Jahre. Denn die Ideen und das Schaffen der Bewegung galten lange als Höhepunkt russischer Kunst. Nun betonen Denysova und andere Kunsthistoriker*innen, dass viele der Künstler*innen tatsächlich aus der Ukraine stammten und dort wirkten. Wie Kasymyr Malewytsch – der Urheber des »Schwarzen Quadrats« – ließen sie sich oft von der traditionellen ukrainischen Volkskunst inspirieren und sprachen Ukrainisch. Es gebe nun die Tendenz, sich von der russophilen und kolonialistischen Sichtweise auf die Avantgarde-Kunst der Region zu lösen, die der Westen bisher unkritisch übernommen habe, so Denysova.

»Lange Zeit schien es bequem, diese Art von Kunst einfach als russisch zu bezeichnen, anstatt zu versuchen, das Durcheinander der nationalen Identitäten zu verstehen, die das Russische Reich oder die Sowjetunion ausmachten oder heute in der Russischen Föderation existieren«, sagt sie.

Die einseitige Fokussierung auf das russische imperiale Zentrum, wenn es um Avantgarde-Kunst geht, sagt viel über die Denkweise westeuropäischer Museumsdirektor*innen, Kunsthistoriker*innen und Kurator*innen und das weitgehend unbewältigte kolonialistische Erbe in ihren eigenen Kulturen aus. Dabei haben die Ausstellung und die damit verbundene Aufmerksamkeit erwirkt, dass Museen mit renommierten Sammlungen der Avantgarde-Kunst wie das Stedelijk in Amsterdam, das Thyssen-Bornemisza in Madrid und das Ludwig in Köln nun endlich anfangen, Ungenauigkeiten zu beheben.

Der Titel der Ausstellung, auf Deutsch »Im Auge des Sturms«, bezieht sich auf die damals dramatische historische Lage, gekennzeichnet durch den Kollaps von Imperien, den Ersten Weltkrieg, Revolutionen und die Gründung der Ukrainischen Sowjetrepublik. Damals keimte die ukrainische Avantgarde in Städten wie Odessa, Kiew und vor allem Charkiw. Unter anderem versuchten Künstler*innen, eine moderne Formensprache für eine neue nationale Identität zu finden. Lange Zeit vom russischen Zarenreich unterdrückt, suchten sie nach Ausdrucksweisen, die zur ukrainischen Selbstbestimmung passten.

Das Gesamtbild war bunt. Die Identitäten waren fließend. Eine Vielzahl von künstlerischen Bewegungen löste einander ab. So wie der Begriff »Avantgarde« selbst eine Vielzahl von »Ismen« wie den Konstruktivismus, den Kubofuturismus, den Suprematismus oder den Bojchukismus umfasst, gab es unter den Künstler*innen eine faszinierende Mischung von Inspirationsquellen und Auffassungen.

Dieser ukrainischen Avantgarde wurde keine lange Zeit gegönnt, sich zu entfalten. Um jede potenzielle Opposition gegen das sowjetische Projekt – nun in seiner stalinistischen Variante – zu unterdrücken, setzte das Regime massive Repressionen ein.

»Sie kulminierten in den Jahren 1937 und 1938 während des sogenannten Großen Terrors. In der Ukraine bedeutet das unter anderem, dass eine Generation der talentiertesten Künstler*innen – oft auf dem Höhepunkt ihrer Karrieren – hingerichtet wurde oder in sibirischen Gefangenenlagern zugrunde ging, dafür beschuldigt, bürgerliche Nationalisten zu sein. Ihre Werke wurden in Geheimdepots gebracht oder zerstört«, so Denysova.

Die Repressionen nahmen ein solches Maß an, dass die ukrainischen Künstler*innen jener Zeit einfach als »die hingerichtete Renaissance« bezeichnet werden. Ihre Ermordung und die Zerstörung ihrer Werke bilden eine Parallele zum gegenwärtigen systematischen Versuch der russischen Streitkräfte, das ukrainische Kulturerbe wie Museen, Bibliotheken und historische Denkmäler zu zerstören.

Die lokalen Museumsmitarbeiter*innen in Kiew, die die Werke der Ausstellung aus dem Inferno retteten und sie damit für das westeuropäische Publikum zugänglich machten, betrachtet Denysova mit Bewunderung. »Bevor Kunstwerke in eine Ausstellung kommen, werden sie oft restauriert. Farben und Leinwände werden ausgebessert. Manche brauchen neue Rahmen. Sie müssen für den Transport sicher verpackt werden und so weiter. All diese Aufgaben wurden von unseren Kolleg*innen unter heftigen russischen Angriffen durchgeführt, in einem Alltag von Fliegeralarm, Explosionsgeräuschen, Ausgangssperren und Stromausfällen. Oft mussten sie die Nacht im Museum verbringen und dann arbeiten, wenn es Strom gab.« Durch ebendiese Bemühungen kann nun ein lange übersehenes Kapitel der europäischen Kunstgeschichte aufgeschlagen werden.

»In the Eye of the Storm – Modernismen in der Ukraine« war schon in Madrid, London und Brüssel zu sehen. Bis zum 2. Juni im Belvedere Museum, Wien, danach, vom 29. Juni bis zum 13. Oktober, in der Royal Academy of Arts, London.

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