Werbung

Russland: »Die Wahl war ein symbolischer Akt«

Der Politikwissenschaftler Michail Sawwa über die russische Präsidentschaftswahl

  • Interview: Ardy Beld
  • Lesedauer: 7 Min.

Herr Sawwa, was ist Ihr Eindruck von der Präsidentschaftswahl in Russland?

Es ist eine weitere Imitation der Realität. Natürlich handelt es sich nicht um eine Wahl. Schon bei der Registrierung der Kandidaten wurde jede mögliche Konkurrenz – auch völlig aussichtslose – ausgeschlossen. Und deshalb handelt es sich um eine Imitation von Wahlen. Ein Phänomen, das charakteristisch für Putin und sein Regime ist.

Warum diese Imitationen?

Weil Putin als normaler Mensch durchgehen möchte. Die Imitation von Normalität ist für Putins Regime wichtig, um trotz allem Teil der Weltgemeinschaft sein zu können. Daran arbeiten sie ständig. Auch jetzt mit der Wahlen.

Die russische Regierung hätte die Wahl wegen des Krieges endlos verschieben können. Warum wird so viel Aufwand betrieben, wenn das Ergebnis ohnehin feststeht?

Interview

Michail Sawwa ist Experte des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, das 2022 den Friedensnobelpreis erhielt. Der russische Professor lehrte Politikwissenschaft an der Universität von Krasnodar, bis er 2015 aufgrund eines fiktiven Gerichtsverfahrens in die Ukraine flüchten musste. In seinem Heimatland wurde er kürzlich zum »ausländischen Agenten« erklärt.

Die Wahlen sind für Putin ein symbolischer Akt. Es fällt auf, dass die Regierung den Wahlen dieses Mal viel mehr Aufmerksamkeit und Zeit widmet. Das hat nur einen Zweck: Einen sehr hohen Prozentsatz der Stimmen für Putin zu erhalten. Dieser Prozentsatz ist ihre Antwort auf die Sanktionen und das sehr negative Bild nach der Aggression gegen die Ukraine. Das Regime will sich im Kampf gegen diejenigen, die es als Feinde betrachtet, auf etwas stützen. Und zwar auf die Bevölkerung.

Aber wird ein sehr hoher Prozentsatz für Putin nicht eher zu einer weiteren Isolierung innerhalb der Weltgemeinschaft führen?

Es handelt sich in erster Linie um eine Konsolidierung der russischen Gesellschaft um Putin herum. Eine starke Festung, umgeben von Feinden von allen Seiten. Das Regime will die Wahlen nutzen, um dem russischen Volk zu zeigen, dass es eine geschlossene Gemeinschaft mit einem starken Führer gibt.

Würde Putin auch ohne Fälschungen und in tatsächlichem politischem Wettbewerb die Mehrheit der Stimmen erhalten?

Ja, auch ohne Fälschungen und mit echten Konkurrenten würde er die Mehrheit der Stimmen bekommen. Und das ist ein echtes Problem. Das bedeutet für die Welt, dass nicht Putin das Problem ist, sondern das russische Volk. Die Zahlen wären etwas niedriger, aber es wäre sicherlich mehr als die Hälfte der Stimmen.

Was halten Sie von Ihren Landsleuten, die zum Beispiel vor der russischen Botschaft in der Tschechischen Republik Schlange standen um zu wählen?

Ich habe mir die Wahlbefragungen in der Tschechischen Republik angeschaut. Mir ist aufgefallen, dass ein großer Teil der Russen dort für Wjatscheslaw Dawankow gestimmt hat. Meiner Meinung nach ist das eine Katastrophe. Das ist keine Naivität der Russen die ausgewandert sind. Es ist viel schlimmer als das. Es ist der Unwille dieser Menschen zu akzeptieren, dass das Land, das sie einst verlassen haben, nicht mehr existiert. Indem sie für Dawankow gestimmt haben, zeigen diese Menschen, dass sie glauben, Russland wäre ein normales Land, in dem sie etwas ändern könnten, indem sie einen anderen Kandidaten als den derzeitigen Präsidenten wählen. Das ist völliger Blödsinn. Dawankow ist jemand, der überhaupt nichts mit der Opposition zu tun hat, er ist nicht gegen den Krieg. Dass russische Emigranten für ihn stimmen, ist ein Beweis für ihre absolute Unreife.

Was halten Sie von der Aktion »Mittags gegen Putin«, mit der die Exil-Opposition aufrief, am 17. März um Punkt 12 Uhr in die Wahllokale zu gehen?

Ich habe diese Aktion unterstützt, auch wenn sie sehr schwach ist. Für viele ist es leider die einzige Möglichkeit, angesichts der derzeitigen totalen Repression zu zeigen, dass Protest – ein sehr schwacher Protest – möglich ist. Natürlich hatte der keinerlei Einfluss auf die Ergebnisse. Er soll lediglich zeigen, dass viele Russen trotzdem gegen das Regime sind. Es ist eine Möglichkeit, einen weiteren Hoffnungsschimmer auf eine bessere Zukunft zu zeigen. Sie wird das Regime nicht verschwinden lassen.

Ist es in Russland überhaupt möglich, die autoritäre Herrschaft durch Solidarität und demokratische Mittel zu brechen?

Wenn wir über wirksamen zivilen Protest sprechen, ist die einzige Methode, die funktioniert der DnV – Dienst nach Vorschrift. In Russland nennen wir es »italienischen Streik«. Beamte, Büroangestellte, Produktionsarbeiter die gegen das Regime sind, tun nur das, was ihr Job von ihnen verlangt, aber nichts mehr. Wenn sie so handeln, bedeutet das automatisch, dass sie keine kriminellen Befehle und Anweisungen mehr befolgen. Sie werden nicht an Kriegsverbrechen mitwirken, so wie sie es jetzt tun. Alles, was die Staatsmacht jetzt tut, ist ein einziger Verstoß gegen die russische Verfassung. Diese Idee des Widerstands wurde übrigens schon in den 1970er Jahren von der Dissidentenbewegung in der Sowjetunion propagiert. Das Regime kann auf friedliche Weise nur verschwinden, wenn es eine massive Anwendung dieser Form des Protests geben wird.

Ist das ein Problem einer bestimmten Generation?

Meiner Meinung nach ist es kein Problem der Generationen. Es ist ein Problem aller Altersgruppen. Die meisten Russen haben dummerweise keine politische Meinung. Heute sind sie für Putin. Wenn morgen ein anderer an die Macht kommt, werden sie ihn sein. Es ist ihnen egal. Und das ist ein großes Problem.

Putin hat auch kein Wahlprogramm vorgelegt ...

Wenn ein Land fast 25 Jahre lang von ein und demselben Präsidenten mit unbegrenzter Macht regiert wird, gibt es auch keinen politischen Wettbewerb. Und dann sind Wahlprogramme sowieso völlig überflüssig.

Ist es ausschließlich Putin, der die Befehle gibt, oder gibt es einen größeren Personenkreis?

Es ist eine Gruppe von etwa 15 Personen. Es sind Leute, die Putin aus der Vergangenheit kennt, vor allem aus seiner Zeit beim Staatssicherheitsdienst. Um ein paar Namen zu nennen: Nikolai Patruschew, Igor Setschin und Sergei Tschemesow. Diese Gruppe trifft die wichtigsten Entscheidungen in Russland. Putin ist der Koordinator und das öffentliche Gesicht der Gruppe.

Hat die Gruppe bereits einen Nachfolger von Putin bestimmt?

Alle Mitglieder der Gruppe sind bereits in einem fortgeschrittenen Alter. Sehr wahrscheinlich wird Nikolai Patruschews Sohn Dmitri die Rolle Putins übernehmen. Er ist derzeit Landwirtschaftsminister. Er wird momentan gründlich vorbereitet. Man hat bereits einen schönen Lebenslauf für ihn geschrieben ...

Es gibt auch Gerüchte, dass eine von Putins Töchtern sein politischer Erbe antreten könnte.

Ich glaube nicht, dass eine von Putins Töchtern auf seine Nachfolge vorbereitet wird. Die Gruppe besteht nur aus Männern. Eine solche Entscheidung würde gegen ihre Vorstellungen vom Patriarchat verstoßen. Ich denke, Putin ist aufrichtig, wenn er über traditionelle Werte spricht. Er ist von der dominanten Rolle des Mannes überzeugt.

Glaubt er auch an die anderen absurden Sachen, von denen er ständig spricht?

Sicherlich. Die Gruppe besteht aus Psychopathen. Ich meine das nicht als Schimpfwort. Sie sind wirklich psychisch krank. Es gibt drei Hauptmerkmale ihrer Krankheit: Es fehlt ihnen völlig an Empathie für andere. Deshalb auch dieser Krieg. Es ist ihnen egal, wer dabei stirbt. Zweitens: Sie haben keine Vorstellung von den Grenzen ihres Handelns. Wenn sie etwas wollen, erlauben sie sich einfach alles. Hinzu kommt, dass sie schreckliche Angst haben, dass ihnen selbst etwas zustößt. Das macht sie zu richtigen Feiglingen. Deshalb erwarte ich auch, dass diese Gruppe nicht zum Einsatz von Atomwaffen greifen wird. Es wird höchstens eine Imitation geben. Nicht nur der Westen hat vor einer sofortigen Reaktion für den Fall gewarnt, dass Russland Atomwaffen einsetzt. Auch China hat sich dazu geäußert. Im Kreml hat man wirklich zu viel Angst, sein eigenes Leben zu verlieren.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal