Vortragsdauer: ein ganzes Jahr

Unreine Zahlenverhältnisse – Gerhard Rühm hat ein Buch mit Zahlendichtungen vorgelegt

  • Florian Neuner
  • Lesedauer: 4 Min.
»seit heute früh bin ich nicht mehr gealtert«: Der Schriftsteller, Komponist und bildende Künstler Gerhard Rühm, 2015 in Donaueschingen.
»seit heute früh bin ich nicht mehr gealtert«: Der Schriftsteller, Komponist und bildende Künstler Gerhard Rühm, 2015 in Donaueschingen.

Während die Edition seiner gesammelten Werke bei Matthes & Seitz Berlin nur schleppend vorankommt, ist die Schaffenskraft von Gerhard Rühm, des letzten Überlebenden der Wiener Gruppe, ungebrochen. Regelmäßig erscheinen im Klagenfurter Ritter-Verlag neue Bücher und zeigen, dass die häufig mediale Grenzen überschreitende Experimentierfreude des 1930 geborenen Autors, Komponisten und Künstlers nicht nachlässt. Nun hat Rühm ein Buch mit 100 Zahlendichtungen vorgelegt. Es handelt sich dabei nicht nur um einen Querschnitt durch sein Werk – gut ein Drittel der Texte erscheint in dem neuen Band zum ersten Mal.

Aber was soll das eigentlich sein, Zahlendichtung? Dichtung aus Zahlen oder mithilfe von Zahlen? Abzählverse erfreuen sich volkstümlicher Popularität, gleichzeitig walten oft Zahlenverhältnisse im Hintergrund von formal strenger Dichtung: Silben, Hebungen und Senkungen wollen abgezählt sein. All das spielt bei Gerhard Rühm eine Rolle. Dazu kommt, dass Zahlen dazu geeignet sind, ein intermediales Scharnier zu bilden, etwa Töne Buchstaben zuzuordnen und dergleichen. Zahlen können aber auch anstelle der Buchstaben an der Textoberfläche erscheinen, sie sind für Rühm das »reduzierteste und gleichzeitig universellste gestaltungselement«. Erste Zahlengedichte entstanden bereits 1954, aus dieser Frühzeit stammt beispielsweise ein »proportionsgedicht«: »4/22/24/42«.

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»alles sicht- und hörbare (…) kann auf reine zahlenverhältnisse zurückgeführt und daher auch von einer in eine andere dimension übersetzt werden«, erläutert Rühm, bei dessen Zahlendichtungen die »reinen« Zahlenverhältnisse, das abstrakt Konstruktive aber keineswegs im Vordergrund stehen. Dieser Zahlendichter verfährt auch nicht streng, vielmehr schleust er ständig Irritationen in die Zahlenreihen. Oft schaffen Titel unerwartete Kontexte für Ziffernfolgen und sorgen für Reibung. So trägt ein »hamburger zahlengedicht« den Titel »bestattungen«: »5 00 92 11«. Nicht alle Zahlentexte kommen derart minimalistisch daher. Dem Klimawandel widmet Rühm in einem neuen Text einen »ausufernden witz«: »trifft ein hitzetoter einen kältetoten. er hat eine frage, doch keine luft. der kältetote gäbe vielleicht eine antwort, wäre sein mund nicht vereist.« Die Zahl der Hitze- beziehungsweise Kältetoten steigert sich bis zu einer Million und endet mit der Zeile »und so weiter, mehr und mehr und mehr und mehr und mehr«.

In einer Reihe von Texten lädt Gerhard Rühm Zahlenreihen gleichsam narrativ auf, um mit ihnen zeitliche Abläufe und Proportionen elegant und lapidar darzustellen. Ein »lebenslauf« wird von »eintritt« bis »abtritt« anhand der Körpergröße erzählt: »ein zentimeter/zwei zentimeter/drei zentimeter« bis mit »hundertfünfundsiebzig zentimeter« auf der fünften Seite endlich das Erwachsenenalter erreicht ist – zwischen diesem Zustand und dem Abtritt liegen dann nur noch vier Zeilen Schrumpfung (auf »hundertsiebzig zentimeter«). Ein »zeitgefühl« überschriebenes Gedicht wiederum widmet sich der subjektiven Zeitwahrnehmung. »vor einer woche war ich noch ein kind« lautet die erste Zeile, am Schluss heißt es: »alles nach der jahrtausendwende war gestern / seit heute früh bin ich nicht mehr gealtert«. In kosmische Dimensionen greift hingegen das »zeitgedicht« aus, Vortragsdauer: ein ganzes Jahr. Der Urknall ereignet sich am 1. Januar um 00.00 Uhr, das Sonnensystem entsteht am 9. September, nach dem Auftreten der ersten Menschen am 31. Dezember um 22.30 Uhr verdichten sich die Ereignisse bis zur Mondlandung um 23.59 Uhr.

Die Rühm’sche Zahlendichtung ist anarchisch. Verglichen etwa mit Konzeptkünstlern wie Dan Graham, deren Zahlenreihen immer vorhersehbar und regelbasiert ablaufen, fährt Rühm sich regelmäßig selbst in die Parade. In der Zahlendichtung »101« beispielsweise misslingen die Versuche, von 1 aus zählend das »Ziel« 101 zu erreichen und müssen aufgegeben werden. Ähnliches ereignet sich in einem »verunglückten abzählgedicht«: »eins/zwei/drei/vier/fünf/sechs/sieben/acht/neun/zehen/eine fehlt«. In dem neuen Band entfaltet sich komprimiert die ganze Bandbreite von Rühms Kunst: Mit Zahlen arbeitende Zeichnungen sind ebenso enthalten wie Objets trouvés – Rechnungen und Tabellen – und rhythmisch exakt notierte Sprechstücke wie »das pech glück zu haben«, eine »operette für einen sprecher«. Die politische Unkultur seines Heimatlandes wird brutal deutlich, wenn Rühm in einem »österreichischen abzählvers« einen unsäglichen ÖVP-Politiker zitiert: »bei einem nicht,/bei zwei nicht,/bei drei nicht,/bei vier nicht,/auch bei fünf nicht,/erst wenn ›Waldheim mit seinen eigen Händen sechs Juden erwürgt hat, gibt’s ein Problem‹.« Dass Literatur nicht so langweilig sein muss wie die Buchpreis-Romane oder die Gedichte von Grünbein, Wagner & Co., hat Gerhard Rühm mit seinem neuen Buch einmal mehr fulminant bewiesen.

Gerhard Rühm: Die gefaltete Uhr. 100 Zahlendichtungen. Ritter-Verlag, 160 S., br., 23 €.

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