»Es gab keinen Grund zu warten«

Das grüne Familienministerium plant die inklusive Kinder- und Jugendhilfe. Die Stadt Braunschweig setzt sie seit 2021 um

»Kinder sollten ganz selbstverständlich in Regelangebote eingebettet sein«.
»Kinder sollten ganz selbstverständlich in Regelangebote eingebettet sein«.

Herr Albinus, als Vorzeigeprojekte der inklusiven Jugendhilfe scheinen zwei Orte auf: Braunschweig und Delmenhorst. Warum ist Niedersachsen die Hochburg der inklusiven Leuchttürme?

Bereits die letzte Bundesregierung wollte das inklusive Jugendgesetz umsetzen, ist aber im Bundesrat gescheitert. Das war damals kurz vor Ende der Legislaturperiode. Zu dem Zeitpunkt waren wir in Braunschweig in unserer Planung bereits so weit fortgeschritten, dass wir das Problem trotz der gleichbleibenden gesetzlichen Grundlage lösen wollten. Für uns gab es zu diesem Zeitpunkt einfach keinen Grund mehr, abzuwarten.

Wie hat das funktioniert?

Wir haben im Grunde genommen das erzielt, was das Gesetz vorhatte. Familien richten sich in Braunschweig an das Jugendamt, egal ob ein Kind eine Behinderung hat oder eben nicht. Es gibt nicht mehr, wie zuvor, zwei Anlaufstellen, das Jugend- und das Sozialamt. Für uns war das ohne vereintes Gesetz natürlich aufwendiger. Unsere Kollegen und Kolleginnen müssen zum Beispiel in zwei Gesetzbücher schauen. Unser Personal haben wir entsprechend geschult. Durch die frühzeitige Einbindung von Personalräten konnten wir viele Unsicherheiten vermeiden.

Aber das Bundesgesetz trennt doch weiterhin in Jugendhilferecht und »Behindertenhilfe« – lässt sich das auf kommunaler Ebene so einfach umgehen?

Ja, es gibt schließlich die kommunale Selbstverwaltungshoheit. Wir müssen unsere Leistungen anhand der Kriterien erbringen, die der Gesetzgeber vorgegeben hat. Ansonsten haben wir Gestaltungsspielräume. Vereinfacht gesagt haben wir die Kollegen und Kolleginnen aus dem Sozialamt genommen und sie ins Jugendamt umgesetzt. Da das Gesetz dazu momentan sehr komplex ist, haben wir interdisziplinäre Teams gebildet, ein Betreuungstandem. Wenn eine Familie zu uns kommt, hat sie als feste Ansprechpartnerin eine Sozialpädagogin oder einen Sozialpädagogen. Im Hintergrund hilft immer eine Verwaltungsfachkraft. Die beiden arbeiten eng zusammen und ergänzen sich.

Interview

Sarah Yolanda Koss sprach mit Martin Albinus, Fachbereichsleiter Kinder, Jugend und Familie der Stadt Braunschweig.

Das klingt nach einem hohen Aufwand. Das Ziel des neuen Gesetzes soll ja auch ein Bürokratieabbau sein...

Wenn wir das Vorhaben einer inklusiven »großen Lösung« ernst nehmen, um Teilhabechancen zu verbessern und Familien besser zu versorgen, indem wir passgenaue Hilfen anbieten, dann müssen wir einen personellen Aufwand betreiben. Als Erziehungswissenschaftler kann ich sagen: Die ursprüngliche Trennung zwischen Jugendhilfe und Eingliederungshilfe war nicht sehr glücklich gewählt. Wir bekommen dagegen viele positive Rückmeldungen von Familien, die sich zum Beispiel freuen, einen verlässlichen Ansprechpartner zu haben.

Haben sie weitere Lehren gezogen, die sie in den Gesetzgebungsprozess einfließen lassen würden?

Neben den angestrebten Verbesserungen sollten keine neue Folgeprobleme entstehen. Ein Beispiel: Wenn Kinder volljährig werden, müssen sie künftig eine neue Verwaltungsbehörde ansteuern, da für volljährige Menschen mit Behinderung der Sozialhilfeträger zuständig wird. Wir schlagen ein »Haus der Eingliederung« vor. Auf dem rechten Flur sitzen Kollegen für die Minderjährigen, auf dem linken Flur die für die Erwachsenen. Der Kollege, der die Kinder bis dahin betreut hat, geht mit ihnen und den Eltern gemeinsam zum neuen Kollegen über den Flur. Das erleichtert die Situation für alle. So ist auch die Verständigung einfacher. Außerdem müssen wir mehr Expertise in der Ausbildung aufbauen.

Denken Sie, Sie haben die Ziele des geplanten Gesetzes bereits erreicht?

Das bestehende Teilhabegesetz ist mit hohem bürokratischen Aufwand verbunden. Deswegen haben wir noch Probleme mit dem Bürokratieabbau. Außerdem ist unser System darauf ausgerichtet, Kinder mit einer Behinderung als »zusätzlich belastende« Klienten zu sehen, statt sie einfach inklusiv mitzudenken. Dabei sollten Kinder ganz selbstverständlich in Regelangebote eingebettet sein – ohne diese große Überschrift »Eingliederungshilfebedarf«. Andere europäische Länder sind uns da in mancher Hinsicht mit sehr pragmatischen lebenspraktischen Lösungen durchaus um einiges voraus.

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