Berliner Bierboykott: Arbeitskampf am Tresen

Einen Feiertag am 1. Mai konnte der Berliner Bierboykott von 1894 nicht herbeiführen – und doch war er erfolgreich

  • Patrick Volknant
  • Lesedauer: 5 Min.
Im Bierkrieg ist alles erlaubt: Gegen Brauereibesitzer gerichtete Zeichnungen wiesen bisweilen antisemitische Tendenzen auf.
Im Bierkrieg ist alles erlaubt: Gegen Brauereibesitzer gerichtete Zeichnungen wiesen bisweilen antisemitische Tendenzen auf.

Noch waren sie dazu bereit, ihr Schultheiss-Bier zu trinken – nur zur Arbeit wollten sie nicht mehr kommen. Rund 250 Berliner Böttcher entschließen sich am 1. Mai 1894 dazu, den heutigen Tag der Arbeit so zu bestreiten, wie es eines Feiertags würdig ist: Die Männer, die in ihren Brauereien sonst für die Herstellung von Transportfässern zuständig sind, treffen sich mit Bekannten, fahren mit der Familie ins Grüne oder bleiben einfach zu Hause. Das alles trotz deutlicher Warnung ihrer Arbeitgeber.

Die Brauereien der Böttcher hatten zuvor weitere Gespräche über bessere Arbeitsbedingungen abgelehnt. Irgendwie waren sich beide Seiten in der Vergangenheit immer wieder ohne größere Konflikte einig geworden. Doch mit der Forderung, den 1. Mai als Feiertag einzuführen, ging es nun um etwas Politisches. Seit Jahren sehnte sich die Arbeiterschaft im Kaiserreich nach einem Maifeiertag. Schon 1889 hatte der Internationale Arbeiterkongress in Paris den 1. Mai zum Kampftag der Arbeiterbewegung ausgerufen.

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Auf sich anschließende Streiks reagierten Arbeitgeber damals mit Entlassungen, und auch den Berliner Böttchern sollte es nicht anders ergehen. Von den Kündigungen aufgebracht, schlagen sie am 3. Mai zurück und rufen einen Generalstreik aus. Neben dem Maifeiertag fordern sie unter anderem die Einführung eines Neun-Stunden-Tags und die Anerkennung ihrer gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Weitere Beschäftigte schließen sich den Böttchern an, Frauen solidarisieren sich mit den Männern, die in den Brauereien harte körperliche Arbeit verrichten. Auch Kinder, Buben und Mädchen sind in den Betrieben tätig.

Als die Berliner Brauereien noch einmal mehr als 400 Arbeiter auf die Straße setzen, kommt es zur Eskalation: Am 16. Mai verkündet der »Vorwärts«, Zentralorgan der SPD, den Aufruf an die Arbeiterschaft, kein Bier der sieben größten Brauereien mehr zu trinken. Es ist der Auftakt zum Berliner Bierboykott von 1894, der in die Geschichte eingehen wird. Und dem der Autor Detlef Brennecke sein jüngstes Buch gewidmet hat.

Zahlreiche historische Sachbücher hat Brennecke, 1944 geboren im Berliner Ortsteil Charlottenburg, bereits geschrieben. Mit einem Buch über den »Spandauer Bock«, ein bedeutendes Ausflugslokal in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert, feierte er 2021 einen Erfolg im Bereich der Berliner Lokalgeschichte. Für seine Abhandlung über den Berliner Bierboykott hat der ehemalige Rundfunkjournalist und Professor mehr als ein Jahr lang recherchiert.

»Eigentlich war die gesamte Führung der SPD von Anfang an dagegen«, sagt Brennecke zu »nd«. Prominente Figuren wie Wilhelm Liebknecht und August Bebel hätten den Bierboykott als taktische Dummheit empfunden. »Und dann war die Arbeiterschaft gespalten. Viele haben einfach nicht mitgemacht.« Es sei vor allem der SPD-Politiker Paul Singer gewesen, der agitiert und die Eskalation vorangetrieben habe. Danach, so Brennecke, habe es schließlich kein Zurück mehr gegeben.

Als die Arbeitgeber den Forderungen weiterhin nicht nachkommen, wird der Boykott ausgeweitet und betrifft fortan sämtliche Brauereien des sogenannten Rings: Zu ihm hatten sich die 33 größten Berliner Brauereien unter der Ägide des Unternehmers Richard Roesicke, Generaldirektor und Eigentümer der marktführenden Schultheiss-Brauerei, zusammengeschlossen. In der Stadt wimmelt es Ende des 19. Jahrhunderts geradezu von Brauereien, insbesondere in nordöstlichen Stadtteilen wie Prenzlauer Berg, Wedding und Friedrichshain.

Zum Ring konkurrierende Brauereien sehen im Boykott ihre Chance und werden Nutznießer des Konflikts. Auch auswärtige Brauereien drängen plötzlich auf den Markt. »Zwischen den Brauereien mangelte es an Solidarität«, sagt Brennecke. An Kollegen, die aus der Situation Kapital schlagen wollten, habe Roesicke reihenweise »böse Briefe« verschickt. Bei dem einen oder anderen Konkurrenten sollte der Unternehmer seine Drohungen nach Ende des Boykotts wahrmachen und ihn schlichtweg aufkaufen. Die Auswirkungen des Berliner Bierboykotts sind weit über die Stadtgrenzen hinaus spürbar. Während Brauereien aus Sachsen und Bayern versuchen, ihre Verkaufszahlen in Berlin zu steigern, bemühen sich die Ring-Brauereien, das eigene Bier dann halt auch außerhalb der Stadt loszuwerden.

In den Kneipen selbst herrschen chaotische Zustände: Ring-Bier wird mit falschem Etikett ausgeschenkt und »Bierschnüffler« beginnen zu kontrollieren, ob auch wirklich das ausgeschenkt wird, was Wirt*innen vorgeben auszuschenken. Doch nicht nur wurde gelogen und betrogen, sagt Brennecke: »Die Sozialisten haben die Kneipiers massiv geschädigt. Zahllose Wirte sind pleite gegangen.« Viele seien an die Ring-Brauereien vertraglich gebunden gewesen.

Nach acht Monaten kommt es schließlich zur Einigung und der Berliner Bierboykott endet am 24. Dezember 1894. Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen können die Brauereiarbeiter nur in geringem Maße durchsetzen. Vom ursprünglichen Auslöser, dem 1. Mai, ist am Ende mit keinem Wort die Rede. Und doch wird die Einigung zum historischen Erfolg: Den Gewerkschaften gelingt es, sich als anerkannte Interessenvertretung zu etablieren. Eine aus Arbeitgebern und Gewerkschaften besetzte Kommission soll gemeinsam daran arbeiten, die arbeitslosen Böttcher wieder einzustellen. »Beide Seiten behaupteten natürlich, sie hätten den Arbeitskampf für sich entschieden«, sagt Brennecke. Die Frage nach dem Sieger stelle sich letztlich aber nicht. »Was bleibt, ist die Tatsache, dass sich zwei Blöcke fest gebildet haben: Der der Arbeitnehmer und der der Arbeitgeber. Zwei Tarifpartner.«

Brennecke selbst liefert auf 230 Seiten mehr als nur eine chronologische Abhandlung des historischen Geschehens, sondern geht dorthin, wo es spannend wird. Porträts der kontrahierenden Persönlichkeiten, Einblicke in zeitgenössische Karikaturen, Spottgedichte über den Bierboykott und weitere historische Exkurse bieten willkommene Abwechslung. Brenneckes nächstes Buch steht bereits in den Startlöchern. Es soll von der bislang unbekannten Geschichte des ersten Attentäters auf Kaiser Wilhelm I. handeln.

Detlef Brennecke: Der Berliner Bierboykott von 1894. Lukas Verlag 2024, 230 Seiten, 24,90 Euro.

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