- Politik
- Kriminalität 2023
Mehr politische Gewalt, oder mehr Berichte darüber?
Im Langzeitvergleich ist das »Gewaltniveau« in Deutschland weiter niedrig, meint Konfliktforscher Nils-Christian Bormann
Herr Bormann, wie vergiftet ist das politische Klima gegenwärtig in Deutschland?
Vergiftet und Klima sind nicht die Ausdrücke, die ich als Wissenschaftler in dem Zusammenhang benutzen würde. In meiner Arbeit beobachte ich dreierlei. Erstens: Der Diskurs zwischen Politikern ist in Ton wie Inhalt polarisierter geworden, besonders bezogen auf die Zuwanderungspolitik. Zweitens: Die öffentliche Debatte ist mit der Einführung des Internets und besonders der sozialen Medien inklusiver, aber auch emotionaler und negativer geworden. Meinungen, die man früher als Stammtischparolen bezeichnete, dominieren in den sozialen Medien. Die Überzeugungen der Menschen liegen dabei gar nicht so weit auseinander, wie es die öffentliche Debatte erwarten lassen würde. Drittens: Die politisch motivierte Kriminalität erreichte laut Bundeskriminalamt 2023 einen Höchststand seit Beginn der Datenerhebung 2001. Leider haben wir keine guten wissenschaftlichen Daten über einen längeren Zeitraum. Mein Eindruck ist, dass es in der ersten Hälfte der 1990er deutlich mehr Fälle politisch motivierter Gewalt gab.
Nils-Christian Bormann (38) ist Konfliktforscher an der Universiät Witten/Herdecke. Im Rahmen eines vom Europäischen Forschungsrat finanzierten Projekts untersucht er die Rolle politischer Gewalt in Europa, insbesondere in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Mit ihm sprach David Bieber.
Welchen Anteil an der Zuspitzung der Debatten hat die AfD?
Sie trägt die Hauptverantwortung für die Polarisierung. Ob die Rhetorik der Partei auch die öffentliche Debatte beeinflusst oder diese lediglich spiegelt und inwiefern sie einen Einfluss auf den Anstieg von Gewaltdelikten gegen Politiker hat, ist wissenschaftlich aktuell nicht beantwortet. Es gibt auch andere Akteure, die versuchen, die öffentliche Debatte zu polarisieren – besonders die russische Regierung.
Insbesondere im Vorfeld der Europawahl am 9. Juni kam es immer wieder zu Angriffen auf Politiker und Wahlkämpfer. Wie erklären Sie sich das?
Die Gründe sind vielfältig. Es gibt überzeugte Ideologen, islamistisch, links, rechts, die politische Gegner mit allen Mitteln bekämpfen wollen. Es liegen inzwischen einige Studien vor, die darauf hindeuten, dass rechtsradikale Parteien bei Wahlen von politischer Gewalt profitieren. Aktuell gibt es aber noch keinen Hinweis darauf, dass rechtsextreme Akteure in Deutschland Gewalt gezielt einsetzen, um den Stimmenanteil der AfD zu erhöhen. Darüber hinaus gibt es Täter, die zutiefst frustriert über ihre Lebenssituation sind. Sie machen dafür einzelne Politiker verantwortlich und wollen sie »bestrafen«. Der Einfluss von Verschwörungserzählungen spielt auch eine Rolle. Leider gibt es nicht viele verlässliche Studien zu politischer Gewalt in Deutschland. Eine der wenigen vorhandenen zeigt, dass zum Beispiel Kriminalität gegen Asylsuchende in Deutschland dort steigt, wo Immigranten ein Verbrechen zur Last gelegt wird. Ob diese lokalen Gewaltspiralen dann auch systematisch Gewalt gegen Politiker nach sich ziehen, müssten weitere Studien klären.
Erwarten Sie einen weiteren Anstieg von politisch motivierter Gewalt?
Ohne verlässliche Studien zu Vorfällen in Deutschland oder vergleichbaren Ländern lässt sich das pauschal nicht beantworten. Es gibt aber einige Faktoren, die die Wahrscheinlichkeit von Gewalt erhöhen. Eine schwere Wirtschaftskrise würde zu mehr Frustration bei vielen Menschen führen, aus der heraus dann mehr Straftaten begangen werden. Ganz wichtig ist, dass der Staat wachsam gegenüber organisierter Gewalt sein und diese unterdrücken muss, egal, von wem sie ausgeht. Die gefährlichsten Täter handeln organisiert. Noch gefährlicher wird es, wenn organisierte, gewalttätige Gruppen mit politischen Parteien verbunden sind, wie in vielen europäischen Demokratien der 1920er und 1930er Jahre.
Und wie war diesbezüglich die Entwicklung in den letzten Monaten?
Die Presseberichte der letzten Wochen lassen auf eine erhöhte Zahl von Angriffen auf Politiker schließen, vor allem im Vergleich der vergangenen 20 Jahre. Mein Eindruck ist jedoch, dass es in den 1990er Jahren eine vergleichbare oder höhere Anzahl von Gewalttaten gegen Politiker gab. So gibt es dann auch zwei weitere Erklärungen: Einerseits finden Informationen über Gewalttaten durch die sozialen Medien sofortige Verbreitung in der Bevölkerung. So kann schnell der Eindruck entstehen, dass so etwas häufiger vorkommt als früher, obwohl dem nicht so ist. Andererseits könnte sich die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Gewalt verringert haben. Wir nehmen sie damit deutlich stärker wahr.
Es wird von einer zunehmenden Verrohung der Gesellschaft gesprochen. Wäre es nicht klüger, Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem zu betrachten, das auf allen Ebenen angegangen werden muss, statt nach immer härteren Strafen zu rufen?
Historisch gesehen ist das Gewaltniveau in Deutschland immer noch niedrig. Es war in den 70er und 80er Jahren mit der Rote Armee Fraktion oder Anfang der 90er Jahre mit der massiven Gewalt zwischen rechts- und linksradikalen Jugendgruppen im Osten deutlich höher. Ich stehe der Verrohungsthese skeptisch gegenüber. Aber ich halte die These für plausibel, dass Staat und Politik allein weniger erfolgreich bei der Zurückdrängung von Gewalt sind, als wenn dieses Ziel von vielen Akteuren verfolgt wird. Ich bin überzeugt, dass eine starke Positionierung der Zivilgesellschaft auf lokaler wie nationaler Ebene gegen Gewalt zu ihrer Verringerung führen würde.
Wir sind käuflich.
Aber nur für unsere Leser*innen. Damit nd.bleibt.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen aufgreifen
→ marginalisierten Stimmen Raum geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten voranbringen
Werden Sie Teil unserer solidarischen Finanzierung und helfen Sie mit, unabhängigen Journalismus möglich zu machen.