Was tun bei Westwind?

Identität oder Politik: Was bleibt von der DDR 75 Jahre nach der Staatsgründung?

Der lange Schatten der Geschichte?
Der lange Schatten der Geschichte?

Dass über den Osten nicht gesprochen würde, kann wirklich niemand behaupten. Der Anlässe dafür gibt es reichlich, zumeist sind es Jahrestage: der Tag der Deutschen Einheit, der Tag des Mauerbaus, des Mauerfalls oder der Staatsgründung. Alternativ bietet abweichendes Verhalten im Osten – zum Beispiel bei Parlamentswahlen – für Experten und Journalisten Gelegenheit zu den immergleichen Analysen. Diejenigen, die sie aussprechen, sind zumeist westdeutscher Herkunft, mitunter handelt es sich auch um »gut integrierte« Ex-Ostler, die mittlerweile in der dritten Person über den Ostdeutschen sprechen und also am Projekt der ewigen Ost-Exotisierung teilhaben.

Häufig geht dann – bemüht verständnisvoll – die Rede davon, der Ostler leide unter der »Aberkennung« seiner Biografie, seiner Lebensleistung. Das schreibt und spricht sich gut und leicht, weil es nichts kostet. Völlig unklar bleibt, was sich hinter der Phrase verbergen soll. Das Gegenteil von »Aberkennung« lautet Anerkennung – und damit sind wir beim Thema: Auf die Siegermentalität der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft wird mit Mitteln einer »Politik der Anerkennung« reagiert, auch als Identitätspolitik bezeichnet.

Ich spiele das Spiel mehr als nur gelegentlich mit. Schon viertel vor, fragt der Westdeutsche. Ich rolle mit den Augen: dreiviertel. Was ist ein Konsum, fragt mich mein Gegenüber, betont das Wort auf der zweiten Silbe und bekommt von mir einen Vortrag zu hören. Siegfried Lenz, sagt da jemand mit stolzer Stimme und hält das für Literatur. Mich unendlich überlegen fühlend, entgegne ich: Anna Seghers! Aber – Volker Schlöndorff, spricht da jemand, zum Versuch der Ehrenrettung des deutschen Films ansetzend. Ich winke ab und sage sehr bestimmt: Konrad Wolf.

Es sind Reflexe, die ich an mir selbst beobachte. Sagt jemand »Plastik«, wiederhole ich etwas lauter »Plaste«; fragt jemand nach »Pril«, gebe ich ihm »Fit«; lästert jemand über »Plattenbauten«, referiere ich über den »Neubaublock«. Wie die meisten Reflexe sind auch diese antrainiert. Sie entstammen nicht dem Bereich des wohlüberlegten Arguments, sondern füllen nur dort die Lücke, wo die angemessene Reaktion noch keinen Platz gefunden hat.

Die Einwände gegen bloße Anerkennungs- oder Identitätspolitik wurden bereits mehr als einmal formuliert. Ein weibliches Regierungsoberhaupt mag ein starkes Zeichen sein im Kampf gegen das Patriarchat. Aber ein Zeichen, ob stark oder schwach, ist zu wenig, wenn es eigentlich darum geht, beispielsweise für gleiche Bezahlung von Männern und Frauen zu kämpfen. Die US-amerikanische Durchsetzung einer politisch korrekten Sprache mag einer gewissen Ausprägung von Diskriminierung vorbeugen. Aber was nützt das dem »PoC« genannten Schwarzen Menschen, der Opfer von Polizeigewalt in diesem Land wird? Die grundgesetzliche Feststellung, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, ist aller Ehren wert. Aber was bringt eine solche Feststellung, wenn Armut – ein unendlich entwürdigender Zustand – nicht auf politischem Weg beseitigt wird?

Die identitätspolitisch gefärbten Reaktionen auf das Gebaren der westdeutschen Mehrheitsgesellschaft zwischen Ignoranz und Exotisierung kennen eine große Spannbreite von Ostalgie bis Wut und Trotz. Mit einfachen Slogans forderte man vor nicht allzu langer Zeit gleiche Löhne wie auch gleiche Renten in Ost und West ein. Das war ein legitimes Anliegen, das sich im tatsächlichen Raum des Politischen, weit über das Feld des rein Symbolischen hinaus, bewegt hat. Solche Rufe haben mittlerweile der wohlfeilen Behauptung auf den Wahlplakaten Platz gemacht, bei den abgebildeten Politikern handele es sich um »Eine Stimme für den Osten«. Dürfte man frei wählen zwischen einer weitreichenden Lohnangleichung und einer Stellvertreterstimme in Person eines Berufspolitikers – die Wahl fiele denkbar leicht.

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Neben dieser Forderung nach materieller Gleichstellung wäre anstelle identitätspolitischer Irr- und Umwege nach einem neuen geschichtsbewussten Blick auf die DDR zu suchen. Im Jahre 34 nach seiner Implosion tut diesem Staat eine Verteufelung nicht mehr weh, aber auch an einer liebevollen Verklärung wird er sich nicht mehr laben können. Begreifen wir aber Geschichte als Summe gemachter Erfahrung, positiver wie negativer, kann die DDR Anknüpfungspunkt für Debatten der Zukunft und Gegenwart sein, im Übrigen über die Grenzen von Ost- oder DDR-Sozialisation hinaus.

Dabei wird man nicht darum herumkommen, auch Trauerarbeit zu leisten, wie sie etwa Bini Adamczak in ihrem Buch »gestern morgen« – Pflichtlektüre einer aufgeklärten Linken – betreibt. Ein historischer Lernprozess bedingt die Auseinandersetzung mit den Opfern – umso mehr, wenn die Akteure einer künftigen Geschichte mit humanistischen Idealen voranschreiten wollen. Der Postkommunismus bietet Raum für die angemessene Bestattung der Toten. Sonst müsste man eine kommende Gesellschaft auf Leichen pflastern.

Insbesondere die Erfahrung des Zusammenbruchs der DDR ist eine wertvolle, öffnet sie doch die Augen für die Möglichkeit zur Überwindung unüberwindbar gewähnter Verhältnisse. (Die Vorstellung, es habe die DDR auf der einen Seite und die Bürgerbewegung auf der anderen gegeben, ist übrigens eine durchweg verquere westdeutsche Fantasie. Die DDR selbst hat die Bürgerbewegung natürlich hervorgebracht.) Die teils bitteren Jahre der Transformation mit Treuhandregime und Massenarbeitslosigkeit sind die Gegenerfahrung dazu, die Demut lehrt.

Man muss nicht betreten zu Boden schauen (sondern genau hinsehen), wenn von Staatssicherheit und Zuchthaus, Dogmatismus und Mangel an Demokratie, Unfreiheit der Presse und Bürokratismus gesprochen wird. Man darf aber heute auch (wieder) nach genossenschaftlichem Arbeiten und Kollektivität, Verstaatlichung, gesellschaftlicher Fürsorge und Antifaschismus fragen. Mit Gegenwind aus Westen wird man rechnen müssen. Aber erfahrungsgemäß bläst der Wind nicht weniger, wenn man die (Erinnerungs-)Arbeit ruhen lässt.

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