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Die Bereicherung

Jüdische Lebenswege in Pankow

Ihr Koffer steht im Jüdischen Museum zu Berlin. Mit dem letzten Kindertransport nach England war sie dem Holocaust knapp entkommen, ihre Eltern nicht. Inge Lammel hat sich in den letzten anderthalb Jahrzehnten ganz der Spurensuche verschrieben. Mit einer bewundernswerten Ausdauer und Akribie forscht sie nach Juden, die einst in Berlin, insbesondere in Pankow, ihrem Heimatbezirk, lebten. Es ist vor allem ihr zu verdanken, dass das ehemalige Jüdische Waisenhaus in Pankow heute wieder eine Adresse ist, seine Geschichte und die seiner einstigen Bewohner bekannt sind. Die Vorstellung ihres neuen Buches fand denn auch nicht zufällig in dessen renoviertem Gebetssaal statt. Der Herausgeberin dankte Mitautor Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, mit anerkennenden, herzlichen Worte.

Ihre 1993 erschienene und rasch vergriffene Dokumentation »Jüdisches Leben in Pankow« bescherte Inge Lammel Post aus aller Welt, neue Kontakte, Begegnungen, Bekanntschaften. Sie konnte viele Lebensbilder ergänzen, vervollständigen, korrigieren und ihnen weitere hinzufügen.

Das neue Buch beginnt mit der Vorstellung der Zigarettenfabrikanten Garbáty; im Jahr nach der »Arisierung« seines Unternehmens starb das Familien- und Firmenoberhaupt Josef. Vor einigen Jahren versuchten Neonazis, Garbáty erneut zu diskreditieren, weshalb Bücher wie dieses nicht hoch genug geschätzt werden können. Garbáty hat übrigens nicht nur jüdische Sozialeinrichtungen wie das Pankower Waisenhaus unterstützt, sondern u. a. die Volksbühne. Kein Einzelfall. Jüdische Unternehmer stifteten viel Geld für humanitäre Zwecke, die auch nichtjüdischen Deutsche zugute kamen. Wie wurde es gedankt?

Vorgestellt werden auch die »kleinen Leute«, Einzelhändler, Handwerker. Und nicht nur Historiker verfassten Beiträge für Lammels neues Buch, auch Überlebende erinnern sich, wie etwa an »unsere Schneiderei in der Spiekermannstraße« Jakob Markowicz. Die biografischen Skizzen der Schauspieler, Dichter und Literaten, Musiker und Maler, Ärzte und Juristen belegen, wie viel Pankow, wie viel Berlin jüdischen Bürgern zu verdanken hat, wie sehr sie Deutschland bereicherten. Viele aus dem Exil Zurückgekehrte wählten die DDR. Willy Schenk beispielsweise, der in der Zeit der Weimarer Republik mit seiner »Lachbühne« durch ganz Deutschland tourte, als »Halbjude« im NS-Staat aus der Fachschaft Bühne und Artistik und dem Theaterdirektorenverband ausgeschlossen wurde und zu DDR-Zeiten die viel besuchte »Gastspielbühne Willy Schenk« in der Pankower Elsa-Brandström-Straße betrieb. Oder die Grafikerin, Résistance-Mitglied Doris Kahane, berühmt durch ihre berührenden Bilder, die nach ihrer Verhaftung durch die Gestapo im berüchtigten Lager Drancy bei Paris entstanden sind. Ihr Studium absolvierte sie in den 50ern an der Kunsthochschule in Weißensee.

Natürlich fehlen nicht die Bleichröders, dessen bekanntestes Familienmitglied Gerson, Hofbankier von Kaiser Wilhelm I. und finanzpolitischer Berater Bismarcks, 1872 als nicht getaufter Jude in den erblichen Adelsstand erhoben worden ist. Das Familiengrab der Bleicheröders befindet sich auf dem Friedhof in Berlin-Friedrichsfelde, an der Rückseite der Mauer des Sozialistenrondells. Auch Carl von Ossietzky war ein Pankower. Nachdem ihm Stockholm den Friedensnobelpreis 1936 zuerkannt hatte, mussten die Nazis ihn aus dem KZ Oranienburg entlassen; der in Haft schwer erkrankte »Weltbühnen«-Autor wurde in die Spezialklinik für Lungenkrankheiten nach Nordend in Niederschönhausen überführt, wo er die letzten 17 Monate seines Lebens unter Gestapo-Bewachung verbrachte. Nicht nur an Verfolgung, Diskriminierung, Leid und Tod will Inge Lammel erinnern, auch vom Widerstand berichten, von Menschen wie Georg Benjamin, Arzt und Kommunist, im August 1942 im KZ Mauthausen ermordet. Gewürdigt wird die Solidarität beherzter Pankower mit Verfolgten und Illegalen. Einzigartig der Beistand jüdischer Einrichtungen bis zu letzter bitterer Stunde für ihre Schützlinge, vom Säugling bis zum Greis.

Einen interessanten historischen Exkurs über frühe jüdische Bürger in Berlin (ab dem 13. Jahrhundert) steuerte Gisela Langfeldt bei. Man freut sich, Texte des zu früh verstorbenen Widerstandskämpfers und Geschichtsprofessors der Humboldt-Universität Ernst Hoffmann lesen zu können. Ausgestattet ist der Band mit einem üppigem Anhang, der Gedenklisten und ein Verzeichnis von Sozialeinrichtungen enthält. Abgedruckt ist in voller Länge das unter die Haut gehende »Lied von den Schuhen«, gedichtet von Rudolf Majut, Lehrer am Reform-Realgymnasium in Pankow, im April 1933 von den Nazis aus dem Schuldienst entlassen. Im August 1945 schrieb Thomas Mann in Kalifornien: »Einem Gedicht wie den ›Kinderschuhe‹’ prophezeie ich die Aufnahme in die deutschen Schul-Lesebücher der Zukunft.« Wir sind wohl noch nicht in der Zukunft.

Inge Lammel (Hg.): Jüdische Lebenswege. Ein kulturhistorischer Streifzug durch Pankow und Niederschönhausen. Hentrich & Hentrich, Berlin. 398 S., br., 24,80 EUR.

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