Werbung

1. Mai in Berlin revolutionär friedlich

Vereinzelte Flaschenwürfe auf Polizisten stechen im Vergleich zu anderen Versammlungen nicht mehr heraus

Laut Veranstaltern war die diesjährige 18-Uhr-Demo eine der größten 1.-Mai-Demonstrationen Berlins der vergangenen Jahre.
Laut Veranstaltern war die diesjährige 18-Uhr-Demo eine der größten 1.-Mai-Demonstrationen Berlins der vergangenen Jahre.

Um 18 Uhr ist es am Berliner Südstern schon brechend voll. An allen Zubringerstraßen stehen Gruppen zum Loslaufen bereit. Entlang der Gneisenaustraße reihen sich die Marschblocks der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration am Donnerstagabend bis weit zum Mehringdamm. Noch immer knallt die Sonne direkt auf die Köpfe der Menschen, die zunächst ein Konzert von mehreren Deutschrap-Crews erleben, die ihren Zuhörern schon seit dem Nachmittag einheizen. »Ob offen rechts oder rechtsoffen, zurück in dein Drecksloch!«, dröhnt es von der Bühne. Die Stimmung ist ausgelassen.

Bis eben war es zwar noch eine Feier, aber mit der entpolitisierten Sauferei vom Paul-Lincke-Ufer über den Reichenberger Kiez bis zur Oranienstraße hat das hier nichts zu tun. Hier geht es um Politik – mit klaren Forderungen und Entschlossenheit. »Aufrüstung, Kürzung, Verarmung – Schluss damit!« und »Aufrüstung ist Mord!« ist auf Plakaten und Transparenten zu lesen.

»Wir freuen uns sehr, mit so vielen gemeinsam gegen Krieg, Faschismus und Kapital auf die Straßen gegangen zu sein.«

Rosa Hikmet
Revolutionäres 1.-Mai-Bündnis

Rund 30 000 Menschen demonstrieren hier gegen Militarismus und Rassismus. Damit wird es nach Angaben der Veranstalter »die größte 1.-Mai-Demo, die es seit Langem in Berlin gab«. Der Aufzug habe zwischenzeitlich eine Länge von fast drei Kilometern gehabt, resümieren die Organisatoren. »Wir freuen uns sehr, mit so vielen gemeinsam gegen Krieg, Faschismus und Kapital auf die Straßen gegangen zu sein«, erklärt Rosa Hikmet vom Revolutionären 1.-Mai-Bündnis Berlin.

Daniela Klette sitzt in Vechta im Gefängnis und steht in Celle vor Gericht. Sie ist angeklagt, einst der Roten Armee Fraktion (RAF) angehört und Banküberfälle verübt zu haben. Die inzwischen 66-Jährige hat eine Botschaft übermittelt, die bei der Revolutionären 1.-Mai-Demonstration verlesen wird. Darin sagt Klette: »Es gibt so viel Wissen auf unserer Seite, Ideen von Menschen, die sich nicht der kapitalistischen Profitjagd unterwerfen, so viele Erfahrungen von Selbstorganisation in kleinen und großen Zusammenhängen, von Fabrikbesetzungen, Enteignungskampagnen bis hin zur Selbstverwaltung der kurdischen Befreiungsbewegung. Alle diese Erfahrungen sollten in Gedanken und Versuche auf dem Weg zu einer befreiten Gesellschaft, für ein Leben in Freiheit miteinander und im Einklang mit allen Lebewesen einbezogen werden.«

Der Bund der Kommunist*innen führt die Demonstration an, die sich gegen 18.50 Uhr Richtung Hermannplatz in Bewegung setzt. Man singt die Internationale und ruft: »Hoch die internationale Solidarität!« Es wehen zahllose Fahnen, schwarz-rote, queere, kurdische, libanesische und palästinensische.

Von der Polizei ist weniger zu sehen als gewohnt. Die Beamten verzichten darauf, die Straßen rund um die Route und damit den Zu- und Ablauf zu kontrollieren. Es gibt kein begleitendes Spalier, nur vorne und hinten einige Hundertschaften. Es ist eine für den 1. Mai in Berlin ungewöhnlich deeskalierende Strategie. Auf der anderen Seite ist von der Militanz früherer Jahre ebenfalls wenig zu spüren. Dafür wird getanzt, getrommelt, gesungen.

Es gibt natürlich Sprechchöre. Die beziehen sich beispielsweise auf die Tötung von Lorenz A., einem jungen Schwarzen, der Ostern von einem Polizisten in Oldenburg erschossen wurde: »Lorenz A., das war Mord – Widerstand an jedem Ort!« Außerdem hallt es von der Hasenheide bis zur Sonnenallee weit durch die Straßen: »Gaza, Gaza, don’t you cry, Palestine will never die!« (Gaza, Gaza, weine nicht, Palästina wird niemals sterben.)

Zwar will die Gewerkschaft der Polizei (GdP) angesichts eines Dutzends verletzter Kollegen nicht von einem friedlichen 1. Mai sprechen. Die Entwicklung gehe aber in die richtige Richtung, und es sei ein weitgehend positives Fazit zu ziehen. »Wer mehr als 60 Versammlungslagen derart geräuschlos über die Bühne bringt, hat ziemlich viel richtig gemacht«, lobt am Freitagmorgen der GdP-Landesvorsitzende Stephan Weh, als habe es allein an den Polizisten gelegen.

nd.Kompakt – unser täglicher Newsletter

Unser täglicher Newsletter nd.Kompakt bringt Ordnung in den Nachrichtenwahnsinn. Sie erhalten jeden Tag einen Überblick zu den spannendsten Geschichten aus der Redaktion. Hier das kostenlose Abo holen.

Die GdP stellt aber klar, dass die Demonstrationen der Gewerkschaften und im Grunewald sowie ein Rave im Görlitzer Park und andere Veranstaltungen ohne Zwischenfälle verliefen und dass dort durchgehend friedlich protestiert und gefeiert worden sei. Nur beim 18-Uhr-Aufzug sei es – von polizeifeindlichen Sprechchören und antisemitischen Parolen einmal abgesehen – auch dazu gekommen, dass vereinzelt Pyrotechnik und Flaschen gegen Einsatzkräfte geschleudert wurden, weshalb es mehr als 50 Festnahmen gegeben habe. Aber dramatisch ist das keineswegs.

»Wir müssen schon festhalten, dass der 1. Mai damit keinen Exklusivstatus mehr hat«, urteilt Weh. Bei vergleichbaren Anlässen, die von der Hauptstadtpolizei über das Jahr zu stemmen sind, sei es nicht anders zu erleben. In Berlin werde im Schnitt jede Stunde ein Polizist angegriffen, oft aus Versammlungen heraus. Was sich am 1. Mai ereigne, steche da nicht mehr signifikant heraus.

Auch das Bezirksamt Friedrichshain-Kreuzberg berichtet am Freitag, der 1. Mai sei dieses Jahr friedlich verlaufen. 33 Beschäftigte waren im Außendienst im Einsatz und kassierten gleich vor Ort insgesamt 1050 Euro Strafe, überwiegend wegen illegalen Verkaufs von Getränken und Lebensmitteln. Zwölf falsch geparkte Autos wurden umgesetzt.

- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.