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Gaza: Militarisierung der Hilfe
Israel knüpft humanitäre Hilfe an militärische Kontrolle. Für Medico International ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Seit über zwei Monaten, seit dem 2. März 2025, wird keine offizielle Hilfe mehr in den Gazastreifen gelassen: keine Lebensmittel, keine Medikamente und keine medizinische Versorgung. Inoffiziell hat die israelische Regierung palästinensischen Händlern aus dem Gazastreifen, die »nicht mit der Hamas verbunden« sind, erlaubt, überteuerte israelische Produkte einzuführen, um sie zu astronomischen Preisen zu verkaufen und die verzweifelten und hungernden Menschen auf diese Weise auszunutzen.
Die Politisierung humanitärer Hilfe durch israelische Regierungen ist nicht neu. Doch was wir derzeit erleben, ist eine dramatische Verschärfung dieser Politik, die den Gazastreifen als Laboratorium betrachtet. Erprobt wird, bis wohin die israelische Politik gehen kann, bis sie auf westlichen Druck stößt. In den vergangenen anderthalb Jahren musste man feststellen, dass die Regierung Netanjahu sehr weit gehen kann.
Ende April kündigte die Armee neue Strategien und Verfahren an, um die Ziele der Armee und die Hilfe miteinander zu verbinden – ein von Israel schon lange verfolgtes Ziel. Der Öffentlichkeit werden konkrete Dokumente darüber bisher vorenthalten. Nachdem die Armee in den vergangenen vier Monaten den größten Teil der Stadt Rafah und die fünf Kilometer nördlich davon gelegenen Gebiete (die südlich von Khan Younis liegen und 20 Prozent des gesamten Gazastreifens ausmachen) dem Erdboden gleichgemacht hat, kündigte sie an, zwischen mehreren Hunderttausend und einer Million Palästinenser*innen in dieses Gebiet zwangsumzusiedeln.
Hunderttausende würden auf engstem Gebiet zusammengepfercht. Die Hilfe würde wöchentlich einer Person pro Familie gewährt, die vor dem Betreten eines Lebensmittellagers einer biometrischen Kontrolle unterzogen würde und die Ration für eine Woche für ihre Familie erhielte. Verteilt werden sollen die Lebensmittel von einem privaten amerikanischen Militärunternehmen gemeinsam mit internationalen Hilfsorganisationen. Zur Politisierung gesellt sich also eine Militarisierung der humanitären Hilfe.
Dieser Plan der Politisierung und Militarisierung der Hilfe steht in einem größeren Zusammenhang. Israelisches Regierungspersonal, bis hinauf zum Verteidigungs- und Finanzminister, hat erklärt, dass dies die erste Phase eines groß angelegten Zwangstransfers von Palästinenser*innen aus dem Gazastreifen darstellt. Sie verwenden euphemistische Ausdrücke wie »freiwillige Ausreise«, doch selbst bei oberflächlicher Betrachtung fällt auf, dass es so etwas wie Freiwilligkeit während eines Genozids nicht geben kann. Beide Pläne, der der Hilfe und der des Zwangstransfers, sind eng miteinander verflochten, und jede Legitimität, die dem einen gegeben wird, ist auch eine Legitimation für den anderen. Beide stellen Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Bisher hat sich keine internationale Hilfsorganisation bereit erklärt, sich an diesem Vorhaben zu beteiligen, da es gegen die Grundprinzipien humanitärer Hilfe verstößt: Menschlichkeit, Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität. Einer Armee die Entscheidung darüber zu überlassen, wer hungert und wer isst, ist eine rote Linie. Zudem verstößt der Plan gegen das Grundprinzip, die Hilfe dorthin zu bringen, wo die Menschen sind.
Die westlichen Länder haben zu all dem kaum Widerspruch geäußert. Das ist leider nicht überraschend. Die USA, Deutschland und ein großer Teil Westeuropas haben immense rhetorische und politische Kreativität an den Tag gelegt, um Israels Regierung vor internationaler Strafverfolgung und Rechenschaftspflicht zu schützen und die Waffenverkäufe am Laufen zu halten. Trump verkündet, es sei falsch, Menschen im Gazastreifen leben zu lassen, wo die Existenzgrundlagen in großem Umfang zerstört worden sind – als ob diese Zerstörung nicht zu jedem Zeitpunkt des Kriegs hätte gestoppt werden können.
In Anbetracht der Position der US-Regierung und der jüngsten Wahlen in Deutschland (die beiden Länder sind die beiden wichtigsten westlichen Verbündeten Israels) wird sich die Regierung Netanjahu bekräftigt fühlen, auch weiterhin gegen die elementarsten Grundsätze des Völkerrechts verstoßen zu können. Die Signale aus Deutschland zumindest sind eindeutig: Unions-Politiker*innen haben angekündigt, die verschiedenen Urteile des Internationalen Gerichtshofs und des Internationalen Strafgerichtshofs in dieser Frage zu missachten.
Erprobt wird, bis wohin die israelische Politik gehen kann, bis sie auf westlichen Druck stößt.
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Die Mitarbeiter*innen der Medico-Partnerorganisationen, die in der humanitären Hilfe und im Gesundheitswesen im Gazastreifen tätig sind, haben unvorstellbares Grauen erlebt. Viele Hunderte ihrer Kolleg*innen wurden getötet, Hunderte weitere verhaftet, gefoltert und/oder vergewaltigt. Wie ihre palästinensischen Kolleg*innen wurden sie Dutzende Male vertrieben und kämpfen jeden Morgen um die einfachsten Lebensmittel.
Jetzt will die israelische Regierung sie und die Organisationen, für die sie arbeiten, zur aktiven Teilnahme an einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit zwingen. Die internationale Gemeinschaft hat sie schon bisher fürchterlich im Stich gelassen: nichts unternommen, um den Krieg zu beenden und die Verantwortlichen für den menschengemachten humanitären Horror zur Rechenschaft zu ziehen. Der neue Plan zielt darauf ab, einen der widerstandsfähigsten gesellschaftlichen Akteure in Gaza zu brechen – jene humanitären Organisationen, die mit letzter Kraft versuchen, das Überleben der Menschen in Gaza zu ermöglichen. Wegen all dem muss über Gaza gesprochen werden, um der Gerechtigkeit und der Menschlichkeit willen. Nicht erst, wenn es zu spät ist, sondern jetzt.
Chris Whitman ist für die Frankfurter Hilfs- und Menschenrechtsorganisation Medico International Büroleiter in Ramallah für Israel und Palästina.
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