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Wonderfool

Über die Notwendigkeit, die Kontrolle zu verlieren

Mau-Mau sieht anders aus.
Mau-Mau sieht anders aus.

»Du bist ein Hofnarr«, sagt D., »you are the fool.« Er hatte mich überraschend in sein Atelier eingeladen und unsere Tarotsitzung mit den Worten eingeleitet: »Ich lese niemals die Karten für jemanden, wenn ich danach gefragt werde. Aber ab und zu suche ich jemanden aus, für die ich die Karten lese, und heute habe ich dich ausgesucht.«

Ich fühle mich geschmeichelt und bin etwas nervös, welche angenehme oder unangenehme Nachricht die Karten wohl haben. D. sieht für mich aus wie jemand, der ein Medium ist, der im Besitz einer Wahrheit ist, die ich nicht kenne. Dabei ist er weder ungewöhnlich gekleidet noch benutzt er seine Stimme auf besondere Weise. Es ist eher so, dass seine eigentlich profane Anmutung von einer Art Aura umgeben ist.

Seit er zehn Jahre alt ist, übt D. diese Tätigkeit nun schon professionell, also gegen eine Entlohnung, aus. Er las zuerst anderen Kindern, dann auch Erwachsenen die Karten. Er hat es von seiner Großmutter gelernt. Eine mündlich übergebene Technik, die Tradition hat und innerhalb der Familie weitergegeben wird.

Die erste Karte, die ich aufdecke, ist »The Fool«. Es ist auch die allererste im Deck. D. sagt: »Ein Hofnarr ist da, um den Hof zu unterhalten. Manchmal spricht er die kritische Wahrheit über die Leute am Hof – das ist dann besonders unterhaltsam, für die Leute am Hof.«

Aber: Ein Hofnarr sollte nicht selbst König werden wollen. Nur unter dem Deckmantel der scheinbaren Harmlosigkeit ist der Hofnarr erwünscht, und seine Kritik wird nicht nur ins Lächerliche gezogen, sondern auch von den Autoritäten vereinnahmt. In archaischen Gesellschaften war die Figur des Dorfclowns eine Art Orakel und sprach das Gegenteil von dem, was sie meinte. Die »Wahrheit« wurde verklausuliert übermittelt.

Wenn etwa eine Dorfbewohner*in krank war, fragte man den Clown, ob sie überleben würde. Er wurde ans Krankenbett gebeten und führte eine Unterhaltung mit der Kranken, vermutlich eine, die von Scherzen durchzogen war. Am Ende der Sitzung war dann klar, ob die Patient*in überleben würde. Denn das Gegenteil von der Nachricht, die der (traurige) Clown überbrachte, wurde wahr.

Spaß und Verantwortung

Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.

Der Clown sagte die Wahrheit, indem er log. Er zog seine Kleidung falsch herum an und saß rückwärts auf dem Pferd. Ein Outlaw. Perfiderweise haben solch kleine Abweichungen von der Norm häufig eine bestätigende Wirkung, so wie ein öffentlicher Protest nicht selten von der Regierung angeeignet und als Aushängeschild für Meinungsfreiheit benutzt wird. Vielleicht ist es das, was den Clown melancholisch stimmt.

Es ist kein Geheimnis, dass alle Clowns traurig sind. Liegt es daran, dass sie die Last der Wahrheit auf den Schultern tragen oder die Last, die es bedeutet, sie immer nur verklausuliert auszudrücken? Oder dass sie, wenn sie die Wahrheit sprechen, wissen, dass diese häufig keine Konsequenzen hat?

Tatsächlich müssen Clowns traurig sein, denn die Missgeschicke sind es ja, die dazu führen, dass man über sie lacht. Der Clown muss auf der Banane ausrutschen, er muss sich dabei verletzen und ein bisschen humpeln (aber nicht zu sehr). Denn in seiner Misere liegt unsere Fähigkeit zur Empathie. Wir identifizieren uns mit seiner buchstäblichen Verletzlichkeit. Sie erinnert uns an uns selbst. Darin liegt das kathartische Moment. Der Clown erlöst uns von unserem Gefühl, die Einzigen zu sein, die an den Herausforderungen des Alltags scheitern. Mehr noch: Clowns geben uns das Gefühl, dass unser Scheitern, im Gegensatz zu ihrem Scheitern, ein verhältnismäßig schönes ist.

In archaischen Gesellschaften war der Fool derjenige, der in die Asche des Lagerfeuers pustete, damit es niemals erlosch. Gleichzeitig durfte der Narr nicht zu sehr pusten, denn das Feuer sollte nicht zu hoch werden, keine Autonomie erlangen, sondern moderat brennen. Eine Allegorie auf die gesellschaftliche Rolle des Fools? Oder auf die Funktion von Humor überhaupt? Immerhin ist die Clownsnase die kleinste Verkleidung der Welt und zugleich universell lesbar.

Im Schweizer Tessin gibt es eine Schule, in der Clowns ausgebildet werden: die Accademia Teatro Dimitri. Es ist die Schule des Clowns Dimitri, einer der letzten Orte, an denen man das uralte Handwerk lernen kann. Auch dieses Handwerk wird wie das des Tarot-Karten-Lesens mündlich überliefert. Man sagt, dass die mündliche Überlieferung eigentlich die sicherste Form ist, Informationen an nachfolgende Generationen weiterzugeben. Man tut es, so heißt es, am besten singend.

In mancher Hinsicht ist es nicht nur charmant, sondern sogar notwendig, sich ein wenig fool-ish zu verhalten, das heißt, auszurutschen, die Kontrolle zu verlieren, sich angreifbar und verletzlich zu machen. So zum Beispiel in der Liebe – oder in der Kunst. Love is the wisdom of the fool and the dolly, sagt man. Und ich denke: Isn’t every fool wonderfool?

D.s Tarotlesung beschäftigt mich nun seit einigen Wochen, einhergehend mit der Frage, ob man den Narren von seiner Vereinnahmung durch Autoritäten befreien kann. Gibt es autonome Fools? Advokaten des schönen Scheiterns? Ich denke an den Mann, der den gesamten Berlin-Marathon mit einer Ananas auf dem Kopf gelaufen ist, für mich der eigentliche Gewinner des Wettbewerbs.

Nun ist einer meiner schon seit der Kindheit meist verehrten Fools plötzlich verstorben: Eva, eine der zwei fantastischen Hälften des Künstler*innenduos Eva und Adele. Die beiden repräsentierten für mich immer das Konzept von »10 Points for Passion«: todernste Albernheit im radikal nicht-institutionalisierbaren Sinn. Wie die traditionellen Hofnarren standen sie für eine Art lebenslange Performance, die nur durch den Tod selbst unterbrochen werden kann. Allerdings gab es keinen Hof, der sie sich hätte aneignen können. Sie setzen sich in ihrer Nicht-Greifbarkeit durch. Sterben diese Figuren, die ganz alltäglichen, autonomen Fools in unserer Generation aus? Ich glaube an das Gegenteil. Because: Isn’t every fool wonderfool?

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