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Ein Marienwunder
nd-Kolumnistin Olga Hohmann war zu Gast auf einem Festival für die Mutter Gottes
Wir fahren zur Schwarzen Madonna von Czestochowa. Eine Pilgerstätte. Das Bild ist spätestens aus dem 14. Jahrhundert. Vermutlich älter. Es soll die polnische Bevölkerung gegen die Besatzung durch die schwedischen Angreifer geschützt haben – oder so ähnlich. Dabei hat die Madonna sich eine Narbe zugezogen, auf der linken Wange. Aus dieser Wange, so sagt man, lief echtes Blut. Seitdem wird die Madonna verehrt. Gelähmte lernten in ihrem Angesicht wieder zu gehen. Blinde zu sehen. Unfruchtbare bekamen Kinder.
Reisebusse aus ganz Europa stehen auf dem Parkplatz vor der Kirche. Tausende von Menschen versammeln sich vor ihr. Geistliche in hohen Positionen gehen geschäftig durch die Menschenmengen, mehrere Gottesdienste finden gleichzeitig statt. It’s the whitest place ever.
In einer Ecke sitzen zwei junge Frauen, die eine legt segnend der anderen die Hand auf die Stirn. Fast die Hälfte aller Besuchenden sind Nonnen. Zuerst versuche ich noch, sie am Rockzipfel zu berühren, weil das Glück bringen soll, dann gebe ich auf. Es sind einfach zu viele. Wie in der Sternschnuppennacht, nach der mir der Nacken steif wird, weil ich mir und anderen unzählige Wünsche gewünscht habe, schon ab dem zwanzigsten Wunsch natürlich höchst redundant.
Olga Hohmann versteht nicht, was Arbeit ist, und versucht es täglich herauszufinden. In ihrem ortlosen Office sitzend, erkundet sie ihre Biografie und amüsiert sich über die eigenen Neurosen. Alle Texte auf dasnd.de/hohmann.
Wir geraten mitten in den Gottesdienst, der direkt vor der verehrten Ikonen-Malerei stattfindet. Um sie zu schützen, ist sie, schon seit einigen Jahrhunderten, mit einer goldenen Schutzhülle umhüllt. Man sieht nur die zwei Gesichter, das der Madonna und das des Jesuskindes. Sie thronen unbeteiligt über der Masse an Menschen.
Wir sitzen in der ersten Reihe, ebenfalls die einzigen Protestanten unter Katholiken und murmeln auf Gibberish die auf Polnisch vorgetragenen Gebete mit, ich summe die liturgischen Gesänge mit, die ich nicht kenne. Wir sitzen auf einer Insel, umgeben von Menschen. Hinter der Malerei ist ein Durchgang. Menschen rutschen auf den Knien um uns herum, Hunderte. Sie tun das den ganzen Tag.
Wir beobachten das Spektakel für die Dauer des Gottesdienstes, eine gute Stunde. Hunderte und Hunderte, direkt um uns herum. Sie tun es mit ganz unterschiedlicher Attitüde, einige mit Tränen in den Augen, andere unbeteiligt, manche, vor allem Kinder, mit leicht genervtem Gesichtsausdruck. Manche haben Schwierigkeiten, auf den Knien zu rutschen, sich hinzuknien oder aufzustehen, auf manche wartet der Rollstuhl am Ende des Opfergangs. Manche tragen riesige Blumenbouquets, manche große Holzkreuze, die sie extra mitgebracht haben, manche beten kniend, rutschend, ein Rosenkranzgebet. Manche nehmen Blickkontakt auf, andere nicht.
Der Priester gibt uns keine Hostie am Ende des Gottesdienstes. D. ist enttäuscht. Woran man uns als Protestanten entlarven kann, bleibt uns unklar. An der Wand hängen Krücken von all denjenigen, die im Angesicht der Madonna wieder gehen gelernt haben.
Auf dem Weg zum Restaurant spazieren wir noch einmal an dem Gottesdienst unter freiem Himmel vorbei, der mehrere Tausend Betende umfasst. Ein Festival. Ich begreife erst hier, dass auch der Katholizismus eine riesengroße Sekte ist. Zum Glück ist ihr Sektenführer nicht Jesus, sondern Maria.
Kurz darauf kommt ein starker Regen. Wir flüchten uns in ein georgisches Restaurant. Wir hatten erwartet, dass es aufgrund des Regens überfüllt wäre, aber es bleibt leer. Das Essen ist fantastisch, ich esse eine riesige Portion Leber. Das ist gut gegen Eisenmangel, lerne ich. Weil das Organ so langsam ausblutet. Ich erinnere mich daran, dass meine Mutter als Kind gern rohe Leber aß.
Als wir das Restaurant verlassen, ist der Regen vorbei. Alles ist wie ausgestorben. Auf dem Parkplatz finden wir unser Auto, einen Subaru Forester, fast nicht mehr. War er vorher bis auf den letzten Parkplatz besetzt, ist er jetzt völlig leer, eine Parkplatzwüste nach der großen Flut. Selbst das Wetter kommt einem hier biblisch vor.
Auf dem Weg kaufe ich mir als Andenken oder für schlechte Zeiten noch ein Plastikfläschchen voller Weihwasser. Ich lerne, dass man es nur benutzen darf, wenn man vorher drei Tage lang weder Fleisch noch Milchprodukte zu sich genommen hat. Wahrscheinlich der Grund dafür, dass ich es noch nicht benutzt habe.
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