Kunstwerk »The Herds«: Niemand wird unberührt bleiben

Das Kunstwerk des Monats: »The Herds« ist eine Geschichte über die Menschheit, die dabei ist, die Kontrolle zu verlieren

  • Susanne Leeb
  • Lesedauer: 5 Min.
Erderwärmung konkret machen: Ein Teil von »The Herds« unterwegs auf dem Fluss Makoko bei Lagos
Erderwärmung konkret machen: Ein Teil von »The Herds« unterwegs auf dem Fluss Makoko bei Lagos

Derzeit zieht eine große Prozession von Sperrholz- und Pappfiguren durch Afrika und Europa: Giraffen, Kudus, Gorillas, Schimpansen, Gazellen, Zebras, Wölfe, Bären, Hyänen, Leoparden, Elefanten, Antilopen – insgesamt über 600 lebensgroße Tierfiguren, die von Puppenspieler*innen animiert werden. »›The Herds‹ ist eine Geschichte über die Menschheit, die gerade dabei ist, die Kontrolle zu verlieren«, so der künstlerische Leiter Amir Nizar Zuabi. Ein Kontrollverlust, der verursacht wurde von der Ignoranz gegenüber den seit Jahrzehnten bekannten Industrialisierungs- und Karbonisierungsfolgen.

Die Tiere sind auf der Flucht vor der Erderwärmung. Sie laufen, um auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Sie sind wesentlich konkreter als die »Erderwärmung«, ziehen an jedem Ort Tausende begeisterte Zuschauer*innen an und sind das Resultat einer enormen Vision und eines riesigen logistischen Apparates mit Hunderten von Beteiligten, Partnerorganisationen, freiwilligen Helfer*innen, Sponsoren und Unterstützer*innen aus zahlreichen Ländern.

Es bedurfte für das ganze Unterfangen jahrelanger Vorbereitung, angefangen mit genauen Studien, wie die Tiere laufen, fressen, stehen, schlafen, über das Bauen von Modellen, Entwickeln von Schnittplänen und Bauanleitungen bis zur Ausbildung von über 1200 Puppenspieler*innen und vieles mehr.

»The Herds« haben bereits diverse Stationen hinter sich: Kinshasa, Lagos, Dakar, Casablanca, Cadiz, Madrid, London, Manchester – und weiter geht es noch über zahlreiche andere Städte bis nach Trondheim, insgesamt etwa 20 000 Kilometer, die von April bis August 2025 zurückgelegt werden. Zwischen den Städten werden sie verpackt, verschifft, wieder ausgepackt, neu zusammengesetzt oder an den jeweiligen Orten reproduziert oder neu geschaffen. Andere Tiere kommen auf jeder Station hinzu, angepasst an die jeweilige Fauna. Sogar Igel und Fische werden bedacht. »The Herds« wären auch fast nach Deutschland gekommen, aber eine deutsche Theaterinstitution hatte die Zusammenarbeit abgesagt – ohne Begründung.

Entwickelt wurden die Tierpuppen vom Ukwanda Puppets and Designs Art Collective, das an einem geisteswissenschaftlichen Forschungszentrum in Cape Town, dem Center for the Humanities Research (CHR) der University of the Western Cape, in Südafrika angesiedelt ist. Das Forschungszentrum, das Kollektiv und Zuabi und sein Team teilen eine Mission, die »The Herds« auf ihre Reise geschickt hat: In einer Zeit der Indifferenz, regiert von Statistiken und Prognosen, in einer Zeit der langsamen, zwar mittlerweile auch in Europa überall spürbaren, aber immer noch nicht als existenziell empfundenen bedrohlichen Gewalt, die sich mit der Erderwärmung verbindet, lautet die Herausforderung, eine sinnliche Erfahrung zu schaffen, die sensibilisiert und bestenfalls zu Handlungen animiert.

Niemand, der »The Herds« sieht, wird von der erstaunlichen Truppe, der Liebe zum Detail der Produktion sowie dem gesamten Unterfangen unberührt bleiben. Es ist eine der umfangreichsten Inszenierungen im öffentlichen Raum, die qua Empathie und Enthusiasmus Hunderte von Leuten quer durch Länder und Kontinente verbindet, sei es als Spieler*innen, Zuschauer*innen oder anderweitig Beteiligte vor Ort. Die Akteur*innen entwickeln zusätzliche Workshops oder Bildungsprogramme, bis hin zu einer Webseite (www.theherds.org), die zahlreiche Vorschläge enthält, wie man sich lokal engagieren kann. Und nicht zuletzt gibt es ein Dekarbonisierungszertifikat für Städte, das in Deutschland etwa von Heidelberg ratifiziert worden ist.

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Bei »The Herds« aber geht es um mehr als darum, die Kunstfertigkeit zu bewundern. Und es geht auch um mehr, als auf die Klimakatastrophe aufmerksam zu machen. Die Frage ist vor allem, wie sie das tun. Kunst wird nichts erfinden, um Zerstörungsprozesse reversibel zu machen. Kunst bietet keine »Lösung« des Klimaproblems. Kunst aber kann das befördern, was der Philosoph Baruch de Spinoza fröhliche Leidenschaften nannte, als er sie von den traurigen Leidenschaften unterschied.

Puppen in ihrer Zwischenstellung von leblosem Material und Lebendigkeit faszinieren, verstärkt durch die Tatsache, dass es Tiere sind, zu denen sich ein leichteres Empathieverhältnis aufbauen lässt. Wer je den Film »Au hazard Balthazar« (1966) von Robert Bresson gesehen hat, wird hoffentlich nie wieder Tiere oder andere Wesen schinden. Und vielleicht stellt sich ja qua »The Herds« ein Übersprung zu der banalen Tatsache ein, dass auch Menschen Tiere sind.

Zuabi hat bereits in einem früheren Projekt Puppen zu Botschafter*innen gemacht. Seit 2021 tourt Little Amal, eine fast vier Meter große Marionette in Gestalt eines aus Syrien geflohenen Mädchens, durch verschiedenste Länder. Zuletzt war sie in Chile zu sehen. Wer solche Mammutprojekte ausheckt, muss an die Möglichkeit der Kunst glauben, etwas ausrichten zu können.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass zwei der Hauptbeteiligten ihre Theatererfahrung an Orten sammelten, wo Kunst existenziell ist, da sie der Brutalisierung durch die jeweiligen Verhältnisse mit Schönheit, situativem Vergessen und Leichtigkeit entgegensteht, auch dann, wenn die verhandelten Themen katastrophal sind. Amir Nizar Zuabi wurde in Ostjerusalem geboren, Sohn jüdisch-palästinensischer Eltern, die wiederum Nazideutschland entfliehen konnten, und hat in palästinensischen Flüchtlingslagern Theater gemacht.

Das Ukwanda Puppets and Designs Art Collective aus Südafrika wiederum arbeitet in einem Land, das nach dem offiziellen Ende der Apartheid von den Spuren dieser gewaltsamen Trennung noch tief geprägt ist. Der südafrikanische Historiker Premesh Lalu, der das Kunstkollektiv an das CHR in Kapstadt holte, beschreibt in seinem Buch »Undoing Apartheid«, wie Apartheid nicht nur ein juridischer Apparat war, der 1994 endete, sondern das Alltagsleben bis ins kleinste Detail und in jede Empfindung hinein prägte. In Form der »Petty Apartheid« – also so etwas wie kleine Apartheid – blockiert diese bis heute lebensbejahende Kräfte und ist für eine anhaltende Lebenserfahrung rassifizierter Trennung verantwortlich. So spezifisch diese historisch-politischen Kontexte sein mögen, sie verbindet etwas, das auch auf andere Kontexte übertragbar ist: eine grundsätzliche Anästhesierung, abgeleitet von Anästhesie, also eine Betäubung der Sinne.

Gemeint ist damit eine Verarmung im Register möglicher Erfahrungen, eine Verarmung gesellschaftlichen Zusammenhalts und der Lebensmöglichkeiten, die in Politiken und ihren Technologien gründen, die auf Teilung und Trennung setzen. Die sprunghafte Zunahme von Hassreden in (a)sozialen Medien wäre ein weiteres Beispiel für eine solche Technologie. »The Herds« ist eine Möglichkeit, dieser Verarmung etwas entgegenzusetzen, Handlungsfähigkeit zu erweitern, statt Ohnmachtserfahrung zu produzieren, sich über einen affirmativen Bezug zu etwas zu verbinden. Das ersetzt nicht die politische Analyse, aber Kunst spielt auch mit und auf anderen Registern. »The Herds« laufen auch gegen diese Apparate der Teilungen an.

Vom 27. bis 29.6. in London, danach in Manchester, Aarhus, Kopenhagen, Stockholm und Trondheim.

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