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Femizide in Berlin: Kein Drama, sondern Mord
2024 wurden in der Hauptstadt 30 Frauen von Männern getötet. Initiativen und Politiker fordern besseren Gewaltschutz
Dutzende rote Pumps, Turnschuhe und Stiefel liegen übereinander auf einem Haufen, eingeschlossen in einem goldlackierten Käfig. An einem Gitterstab baumelt noch ein glitzernder Stöckelschuh. Die Installation »Der Goldene Käfig« ist in der vergangenen Woche vor dem Louise-Schröder-Saal im Rathaus Schöneberg aufgebaut. Dort lädt die Arbeitsgruppe Feminismus der Initiative Omas gegen rechts zu ihrer Veranstaltung »Blutrote Schuhe« ein. Die roten Schuhe sind international ein Symbol für Femizide, also für die Tötung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, sagt Marion Fabian zu »nd«. Die 75-jährige Künstlerin ist eine der Omas gegen rechts und hat den goldenen Käfig gestaltet. »Früher hieß es oft, Frauen werden da eingesperrt. Ihre Männer holen sie nur heraus, wenn sie sie brauchen – oder missbrauchen. Und wenn die Frau nicht gehorcht, tötet der Mann sie«, so Fabian.
Die Fallzahlen an Femiziden nehmen nicht nur deutschlandweit, sondern auch in der Hauptstadt seit Jahren zu. Die Berliner Regierungskoalition hat vor wenigen Tagen beschlossen, die elektronische Fußfessel als Gewaltschutzmaßnahme einzuführen. Dafür plant der Senat eine Novelle des Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (Asog). Zudem können seit Kurzem verschiedene Berliner Behörden und Schutzeinrichtungen Informationen zu besonders gefährdeten Frauen untereinander austauschen. Dies war jahrelang aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht möglich.
Auf die strukturelle und politische Dimension von Femiziden wollen die Omas gegen rechts mit ihrer Veranstaltung im Rathaus hinweisen. Der Bezirksbürgermeister von Tempelhof-Schöneberg, Jörn Oltmann (Grüne), hat dafür die Schirmherrschaft übernommen. »Meine Damen und Herren«, setzt er zur Begrüßung an. »Ich sehe keinen Herren!«, ruft eine Frau aus dem rund 50-köpfigen Publikum dazwischen. Dann meldet sich doch immerhin einer. Ein Teil des Problems, wie Fabian später deutlich macht: »Auch Männer müssen sich endlich für dieses Thema interessieren, Verantwortung übernehmen und einschreiten, wenn sie Gewalt mitbekommen.«
Schließlich sind die Täter, wenn es um Femizide geht, in der Regel männlich. Femizide seien, so Fabian, der extremste Ausdruck patriarchaler Gewalt, zu der auch Demütigung, Kontrolle, Stalking, körperliche und sexuelle Gewalt gehörten. Vieles davon bleibe jedoch unsichtbar. »Ihr gebt den Betroffenen eine Stimme«, sagt Bahar Haghanipour, die frauenpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus, in einer Videobotschaft an die Omas. »Lasst uns gemeinsam laut sein«, so ihr Appell.
Im Mai stellte Haghanipour mit ihrem Parteikollegen Vasili Franco eine schriftliche Anfrage an den Senat zum Thema Femizide und partnerschaftlicher sowie innerfamiliärer Gewalt in Berlin. Aus der Antwort der Senatsinnenverwaltung geht hervor, dass sich die Anzahl der von Männern getöteten Frauen in Berlin von 2023 auf 2024 von 15 auf 30 verdoppelt hat. Bis einschließlich Mai 2025 wurden bereits fünf Frauen umgebracht. Von den insgesamt 50 Morden an Frauen seit 2023 wird in 20 Fällen von partnerschaftlicher beziehungsweise häuslicher Gewalt ausgegangen. Doch bislang steht nicht fest, wie viele der 50 aufgelisteten Frauentötungen tatsächlich als Femizid eingestuft werden. 15 gehen auf einen einzigen Palliativ-Arzt zurück, der zwischen 2021 und 2024 zahlreiche Patient*innen tötete.
Ende 2023 hat eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe eine polizeiliche Begriffsdefinition festgelegt, laut der Femizide Straftaten der Hasskriminalität sind, die aufgrund von Vorurteilen gegen Frauen begangen werden, sowie Delikte, die zum Nachteil von Frauen begangen werden. Die Innenverwaltung weist in ihrer Antwort auf Haghanipours Anfrage darauf hin, dass die Prüfung, ob eine Frauentötung tatsächlich diese Definition erfüllt, so lange dauert, dass für die Jahre 2024 und 2025 noch keine Zahlen genannt werden könnten. »nd« hat darüber mit Haghanipour gesprochen. Sie findet die Definition richtig, wünscht sich jedoch schnellere Verfahren. Wenn eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet wird – was in Deutschland im Schnitt jeden zweiten Tag geschieht –, könne man in fast allen Fällen davon ausgehen, dass das ein Femizid war.
Haghanipour ist wichtig, diesen Begriff zu verwenden, weil er die patriarchale Dimension eines Mordes korrekt benenne. Früher sei oft verharmlosend von »Beziehungsdrama« gesprochen worden, wenn ein Mann seine Frau oder Ex-Frau umbrachte, und starke Gefühle wie Eifersucht seien vor Gericht als mildernde Umstände berücksichtigt worden, kritisiert die Grünen-Politikerin. Bei Tätern mit Migrationsgeschichte werde dagegen häufiger von »Ehrenmorden« gesprochen, was einen Mord im Namen der Familienehre zu rechtfertigen scheint. In der deutschen Justiz existiert der Femizid noch immer nicht als eigenständiger Straftatbestand – verurteilt wird entweder Mord oder Totschlag.
»Auch Männer müssen sich endlich für dieses Thema interessieren, Verantwortung übernehmen und einschreiten.«
Marion Fabian Omas gegen rechts
Warum kommt ein Mann überhaupt auf die Idee, eine Frau zu töten, weil sie ihn verlässt? Und warum nimmt die Gewalt immer mehr zu? »Das spiegelt den Zustand unserer Gesellschaft wider«, so Haghanipours Erklärung. Je gefestigter die Demokratie, desto stabiler das Land und desto besser seien Frauen und Minderheiten geschützt. Seit der Pandemie, durch Kriege und Inflation häuften sich jedoch die Krisen und die finanziellen Sorgen der Menschen, was zu Aggressionen führe – befeuert von den sozialen Medien.
Patriarchale Einstellungen seien schon seit Jahrhunderten fest in unserer Gesellschaft verankert. Vor allem aber rechte Gruppen seien im Antifeminismus geeint. »Und nun kommt es im Zusammenhang mit dem politischen Rechtsruck zu einem Rollback dieser veralteten Geschlechterbilder«, sagt Bahar Haghanipour.
Dagegen gelte es »zu kämpfen, denn wir alle wollen in einer gerechten Gesellschaft leben, in der Gewalt keinen Platz hat«, so Haghanipour. Gelingen könnte das mit der Instanbul-Konvention, die seit 2018 international verbindliche Rechtsnormen gegen Gewalt an Frauen und gegen häusliche Gewalt festlegt. Allerdings wird sie in Deutschland bislang nur mangelhaft umgesetzt. Zum Beispiel bräuchte es laut der Konvention mindestens 21 000 Plätze in Frauenhäusern, von denen jedoch mehr als 13 000 fehlen.
Vorreiter im Gewaltschutz ist diesbezüglich Spanien, wo es unter anderem ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt gibt, eine Datenbank, die Risikoanalysen erstellt und wo Sex ohne Zustimmung als Vergewaltigung gilt (»Nur ja heißt ja«-Gesetz). In den spanischen Medien werde schon lange der Begriff Femizid verwendet und aus Betroffenenperspektive berichtet, sagt Haghanipour. An einem solchen Bewusstseinswandel müsse man in Deutschland arbeiten, findet die Grünen-Politikerin.
Eine weitere Maßnahme, um Femizide zu verhindern, sind die interdisziplinären Fallkonferenzen. Gemeint ist, dass unterschiedliche Organisationen wie Polizei, Justiz, Beratungsstellen und Jugendämter ihr Wissen zu bestimmten Risikofällen austauschen. Laut der Senatsantwort auf Haghanipours Anfrage waren von den 50 Frauen, die in den vergangenen zweieinhalb Jahren getötet wurden, sechs bereits als Betroffene von partnerschaftlicher Gewalt bekannt, zwei wurden sogar als Hochrisikofälle eingestuft. Hätten die Behörden in diesen Fällen besser zusammengearbeitet, hätten sie die Opfer womöglich retten können.
Seit April sind die Fallkonferenzen rechtlich möglich – doch laut Innenverwaltung ist seitdem noch kein Hochrisikofall zur Durchführung einer solchen Konferenz gemeldet worden. Haghanipour sagt, sie verstehe das nicht. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es seitdem noch keinen Fall gab.«
Insgesamt brauche es laut der Grünen-Politikerin in Berlin ein stärkeres Hilfesystem. Die Gelder, die das Land durch das neue Gewalthilfegesetz vom Bund bekommt, müssten in Schutzunterkünfte, Beratung und Prävention fließen – überall fehle Personal. Außerdem brauche es längere Wegweisungen beziehungsweise Kontaktverbote. Bislang darf die Berliner Polizei Gefährdern bis zu zwei Wochen lang verbieten, sich ihrem potenziellen Opfer beziehungsweise dessen Wohnung zu nähern. »Wir Grünen fordern seit Jahren, das auf vier Wochen zu verlängern«, sagt Haghanipour.
»Es muss viel passieren«, fasst Marion Fabian von den Omas gegen rechts im Rathaus Schöneberg zusammen. Die Veranstaltung »Blutrote Schuhe« soll auch dazu dienen, ein Netzwerk gegen Femizide aufzubauen, an dem sich zum Beispiel die Initiative Stadtteile ohne Partnergewalt (Stop) Kreuzberg beteiligt. »Der Goldene Käfig« mit den blutroten Schuhen soll als Wanderausstellung bald auch in weiteren Rathäusern zu sehen sein.
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