Korallenbleiche: Wenn die Unterwasserwelt verblasst

Steigende Wassertemperaturen und Ozeanversauerung setzen den Korallenriffen zu. Die Prognosen aus der Wissenschaft sind düster

  • Ingrid Wenzl
  • Lesedauer: 7 Min.
Nicht nur die Farbe verschwindet bei der Korallenbleiche (rechts), sondern auch das Leben drum herum.
Nicht nur die Farbe verschwindet bei der Korallenbleiche (rechts), sondern auch das Leben drum herum.

Gespenstisch weiß leuchten die Korallen im Meerwasser. Es sind ihre Lebenspartner, die einzelligen Dinoflagellaten-Algen, die ihnen ihre charakteristischen Farben verleihen. Ohne sie ragen die Kalkskelette nackt empor, und mit den bunten Farben schwindet auch das Leben selbst – Fische, Seesterne, Einsiedlerkrebse und anderes Getier –, das sich in einem intakten Riff tummelt.

Laut Mathilde Godefroid, Meeresbiologin am Max-Planck-Institut für Marine Mikrobiologie Bremen, handelt es sich bei der derzeitigen Korallenbleiche um »die größte Massenbleiche, die es je gab«: Wie Berichte von NOAA Coral Reef Watch bezeugen, werden seit Anfang 2023 rund 84 Prozent aller tropischen und subtropischen Korallenriffe in mindestens 83 Ländern von ihr heimgesucht, darunter auch das größte und bekannteste von allen, das Great Barrier Reef vor der australischen Küste. Dieses erlebte in den vergangenen neun Jahren in den Sommermonaten bereits fünf Massenbleichen. Dabei starb 2016 und 2017 mindestens die Hälfte aller riffbildenden Korallen in flachen – fünf bis zehn Meter tiefen – Gewässern, wie eine im August 2024 im Wissenschaftsmagazin »Nature« erschienene Studie belegt.

Kippelement des Erdklimas

Schuld daran sind, wie man inzwischen weiß, in erster Linie die rasant steigenden Temperaturen des Oberflächenwassers der Ozeane und lang andauernde Hitzewellen. Die Jahre 2023 und 2024 gelten als die heißesten seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, und auch im laufenden Jahr setzt sich der Trend weiter fort. Bei Wassertemperaturen um die 30 Grad Celsius sondern die Mikroalgen Stoffe ab, die für ihre Lebenspartner, in deren Außenhaut sie leben, giftig sind. Um sich davor zu schützen, stoßen die Korallen sie aus. Doch der Preis dafür ist hoch, versorgen die Dinoflagellaten sie doch mittels Photosynthese mit 90 Prozent ihrer Nahrung.

Der Weltklimarat (IPCC) stuft die tropischen und subtropischen Korallenriffe als eines der zentralen Kippelemente des Erdklimas ein. Steigt die globale Durchschnittstemperatur dauerhaft oder zumindest über längere Zeiträume um 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit, werden nach seiner Prognose 70 bis 90 Prozent dieser einzigartigen Lebensräume verschwinden. Bei zwei Grad wären es mit 99 Prozent fast alle. Derzeit steuern wir bis Ende des Jahrhunderts auf Temperaturen zu, die sogar um drei Grad über denen vor dem fossilen Zeitalter liegen. 2024 wurde weltweit erstmals die 1,5-Grad-Schwelle überschritten.

Verschwinden jedoch die Korallenriffe in den niederen Breiten, hat das tiefgreifende Folgen für Natur und Mensch: In ihrem Artenreichtum gleichen sie dem Ökosystem der tropischen Regenwälder an Land. Sie beherbergen ein Viertel aller derzeit bekannten Meereslebewesen. Fische sind auf sie als Laichplatz und als Kinderstube angewiesen und finden dort Unterschlupf und Nahrung. Auch schützen die Riffe die Küsten vor Stürmen und hohen Wellen und stellen für Millionen von Menschen, die von Fischfang oder Tourismus leben, die Existenzgrundlage dar. Der Abteilungsleiter Wissenschaft des Deutschen Meeresmuseums, Götz-Bodo Reinicke, spricht angesichts dieser Perspektive von einer Katastrophe.

Doch läuten Korallenbleichen wie die derzeitige bereits den Anfang des Endes dieser zauberhaften Unterwasserwelten ein? »Korallenbleichen sind ein klares Zeichen von Stress«, erklärt die Korallenforscherin Godefroid. Ob sie wieder zu Kräften kommen oder absterben, hänge von der Häufigkeit ab, in der solche Bleichereignisse auftreten und wie lange diese andauern. Tatsächlich treten Bleichen immer öfter auf und greifen immer weiter um sich. »So finden die Korallen nicht genug Zeit, sich davon zu erholen«, sagt Godefroid.

In ihrem Artenreichtum gleichen Korallenriffe tropischen Regenwäldern. Ihr Verschwinden hätte tiefgreifende Folgen für Natur und Mensch.

Eine vergangenes Jahr in der öffentlich zugänglichen Zeitschrift »Diversity« publizierte Langzeitstudie zeigt, dass das Nettowachstum eines noch weitgehend unberührten Riffs vor der Küste des Sudans in den vergangenen 30 Jahren im Vergleich zu dem Zeitraum von 1980 bis 1991 stark zurückgegangen ist. Erstautorin Sarah Abdelhamid und ihre Kolleg*innen assoziieren dies ebenfalls mit den sich seit Anfang der 80er Jahren häufenden Korallenbleichen.

Dabei sind nicht alle Arten gleichermaßen von der Entwicklung betroffen: So stellten die Wissenschaftler*innen fest, dass die robustere Pocillopora, die sogenannte Katzenpfötchen-Koralle, zunehmend den Nachwuchs der Acropora, der empfindlicheren Geweihkoralle, verdrängt. »Widerstandsfähigere Arten etablieren sich dann erfolgreicher. Das Bild, das wir heute von den Riffen im Roten Meer haben, ändert sich fortlaufend weiter«, erklärt Reinicke, der als Untersuchungsleiter an der Studie mitgearbeitet hat. Ähnliches beobachtet man auch in Südostasien oder am Great Barrier Reef. »Wenn eine Art sich wie ein Feld Brennnesseln ausbreitet, dann verdrängt sie andere Arten und verringert damit die Artenvielfalt«, warnt Reinicke. »Ohne Zweigkorallen wird es für alle Arten schwieriger, die auf ihnen leben.« Oftmals bestehen sehr enge Symbiosen, wie etwa zwischen großen Fischen und den sogenannten Putzerfischen. Fehlt die eine Art, verschwinden auch andere. Sicher ist jedenfalls, dass die Rifflandschaften von morgen anders aussehen werden als heute.

Der andere Zwilling

Doch es ist nicht nur die steigende Temperatur der Wasseroberfläche, die den tropischen Korallen zu schaffen macht, sondern auch die Versauerung der Weltmeere. In der Wissenschaft spricht man von den »evil twins« (böse Zwillinge). Die Ozeane nehmen etwa ein Viertel unseres jährlichen Kohlendioxid-Ausstoßes auf. Im Wasser löst sich das CO2 und senkt dabei dessen pH-Wert. Je tiefer er fällt, desto mehr Energie benötigen Steinkorallen, aber auch Schnecken, Muscheln, Seeigel und Seesterne, um ihre Skelette und Schalen zu bilden. Die Ozeanversauerung schwächt zudem bereits bestehende Riffe, behindert ihr Wachstum, macht sie brüchig oder lässt sie gar einstürzen. Dies kommt zu der Ozeanerwärmung und anderen Stressfaktoren wie Fischerei, Abnahme des Salzgehaltes in den tropischen Gewässern, Stürmen und Verschmutzung der Weltmeere noch hinzu.

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Eine im April 2025 in der Fachzeitschrift »Global Change Biology« erschienene Studie kommt zu dem Ergebnis, dass mit dem Fortschreiten der Ozeanversauerung eine weitere planetare Grenze bereits überschritten ist. Damit reduzierten sich die bewohnbaren Lebensräume für die tropischen und subtropischen Korallen um 43 Prozent. Noch dramatischer sei die Lage für Flügelschnecken im Polarmeer: Da kaltes Wasser mehr CO2 aufnehmen kann als wärmeres, sinkt dort der pH-Wert noch schneller als in den tropischen Oberflächengewässern. Den Schnecken gehen, laut Studie, sogar über 60 Prozent ihrer Lebensräume verloren.

Auch die Kaltwasserkorallen leiden unter den Folgen des Klimawandels. Zwar bleichen sie nicht aus, da sie nicht wie ihre tropischen Verwandten in Symbiose mit Mikroalgen leben. Sie filtern vielmehr wie Muscheln das Wasser nach Nahrung. Aber auch unter ihnen gibt es viele Arten, die ihre Skelette aus Aragonit, der löslicheren Form von Kalk, bauen. Und auch sie gedeihen nur innerhalb eines klar umgrenzten Temperaturfensters. So weiß man von der weit verbreiteten Kaltwasserkoralle Desmophyllum pertusum, dass sie bei über 13 Grad Wassertemperatur Probleme bekommt, Kalk zu bilden.

Offene Fragen zu Kaltwasserkorallen

Doch weil es nur sehr wenig Monitoring in der Tiefsee gibt, liegen bislang wenig belastbare Erkenntnisse darüber vor, wie Kaltwasserkorallenriffe, die Hotspots der Biodiversität der Tiefsee, insgesamt mit dem derzeitigen Klimawandel klarkommen. »Wo tatsächlich die Grenzwerte liegen, bei denen die Riffe kollabieren, das ist noch nicht ausreichend verstanden«, versichert Jacek Raddatz, Paläoozeanograph am Geomar-Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung. Denn anders als bei den tropischen Riffen brauche es dafür nicht nur eine Taucherausrüstung, sondern bei Wassertiefen von 400 oder 1000 Metern Roboter oder gar ein U-Boot. Dort ist es kalt, dunkel und es herrscht vielfach eine starke Strömung.

Als Paläoozeanograph weiß Raddatz, dass sich im Zuge des Wechsels von Kalt- und Warmzeiten Kaltwasserkorallenriffe nach Süden oder Norden verschoben haben. Vor etwa 5000 Jahren seien zudem alle Riffe vor Norwegen kollabiert, möglicherweise da sich die Wasserchemie verändert habe. Danach haben sie sich wieder neu gebildet. »Aber das waren natürliche Schwankungen. Einen so schnellen Anstieg der Temperatur und des gelösten Kohlenstoffs im Wasser wie jetzt, das haben die Korallen die letzten paar 100 000 Jahre nicht gesehen. Da muss man geologisch zurückgehen bis zu massiven Vulkanausbrüchen«, sagt Raddatz.

Wie verzweifelt die Lage ist, zeigt der Versuch von Wissenschaftler*innen, Proben von Korallen zu sammeln, die die Bleichereignisse gut überstanden haben, in der Hoffnung, sie im Labor vermehrt irgendwann in kühleren Zeiten wieder auszubringen. So sind sich die Forscher*innen einig, dass es dringend an der Zeit ist, die anthropogenen Treibhausgasemissionen drastisch zu senken und jeglichen Druck auf die sensiblen Ökosysteme zu beseitigen. Nur so können wir zumindest noch einen kleinen Teil davon erhalten.

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