Ethnische Vertreibung: Keine Meinung, sondern ein Verbrechen

Mit der Massenvertreibung der Palästinenser schmiedet Israel seine eigenen Fesseln

  • Lorenzo Kamel
  • Lesedauer: 4 Min.
Der Gazastreifen soll in eine »Touristenstadt« verwandelt werden, wenn es nach israelischen Politikern und Siedlern geht. Noch sind Palästinenser in Gaza-Stadt.
Der Gazastreifen soll in eine »Touristenstadt« verwandelt werden, wenn es nach israelischen Politikern und Siedlern geht. Noch sind Palästinenser in Gaza-Stadt.

Es besteht und bestand zu keinem Zeitpunkt die Gefahr, dass Israel, eine Atommacht (die einzige im Nahen Osten), die von fast dem gesamten Westen unterstützt wird, ausgelöscht wird. Umgekehrt stellen die Auslöschung und die »messianische Umwandlung« der Landstriche, die sich noch in palästinensischer Hand befinden bzw. befanden, keine drohende Gefahr dar, sondern sind seit Langem greifbare Realität.

Die jüngste von vielen Bestätigungen dafür wurde am Dienstag vergangener Woche deutlich, als zahlreiche israelische Politiker und Siedler eine Konferenz in der Knesset abhielten, auf der sie erklärten, Washington habe ihnen »grünes Licht« gegeben, den Gazastreifen in eine »Touristenstadt« zu verwandeln, sobald die Massenvertreibung von über zwei Millionen Palästinensern abgeschlossen ist.

Im Gazastreifen leben viele Vertriebene

Es muss klargestellt werden, dass der Gazastreifen, das Westjordanland und Ostjerusalem 22 Prozent des historischen Palästinas ausmachen. Sich für die Vertreibung der Palästinenser aus dem Gebiet auszsprechen, was ihnen geblieben ist, ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen. Angesichts der Tragik der Ereignisse, »wenn es denn sein muss«, die Palästinenser vorübergehend umzusiedeln, müsste dies paradoxerweise innerhalb des Staates Israel erfolgen: Denn 70 Prozent der Familien, die heute in Gaza leben, lebten dort. So wurden im Juli vor 77 Jahren 60 000 Palästinenser nach dem Todesmarsch von Lydda und Ramla vertrieben: Ein Teil derjenigen, die aus den beiden Dörfern vertrieben wurden, landeten im Gazastreifen.

Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrug das demografische Verhältnis im Gebiet zwischen dem Jordan und Mittelmeer ein Jude auf neun bis zehn Palästinenser, sowohl Muslime als auch Christen. Asher Ginsberg (1856-1927), einer der einflussreichsten Denker des Zionismus, kam 1891 nach Palästina und berichtete in einem Artikel mit dem Titel »Emet me-Eretz Ysrael« (Die Wahrheit aus dem Land Israel) über das, was er sah: »Sie (Ginsberg bezog sich auf die neuen Siedler, die aus Europa kamen) behandeln die Araber mit Feindseligkeit und Grausamkeit, schlagen sie schändlich ohne ausreichenden Grund und prahlen sogar mit ihren Taten. Es gibt niemanden, der diesen verabscheuungswürdigen und gefährlichen Trend aufhalten kann.«

Die von Ginsberg beschriebenen Praktiken beziehen sich auf eine ferne Vergangenheit. Dennoch scheinen sie die Gegenwart zu beschreiben, angefangen bei der Situation im Westjordanland, wo eine Armee stationiert ist, die eine militärische Besatzung durchsetzt, und wo unter ihrer strengen Kontrolle Millionen von Zivilisten leben, die sich seit über einem halben Jahrhundert in einer rechtlichen Grauzone befinden, die ihnen die grundlegendsten Rechte vorenthält.

Besatzung ist alltäglicher Terror

In den Augen der Betroffenen stellt die militärische Besatzung eine alltägliche Form des Terrors dar und wird als solche von einer bedeutenden Anzahl von Palästinensern und Israelis bekämpft und angeprangert, obwohl viele der Israelis die palästinensische Realität (wie auch die Geschichte und Kultur) nicht direkt und eingehend kennen: Sie lernen sie sozusagen erst kennen, wenn sie zum Militärdienst einberufen werden.

Die Leugnung und Entmenschlichung der »Anderen« ist sowohl unter den Palästinensern (die Hamas ist nur ein Beispiel dafür) als auch unter den Israelis deutlich zu erkennen (siehe unter anderem die »Grundprinzipien«, die von der aktuellen israelischen Regierung am 29. Dezember 2022, dem Tag ihrer Amtseinführung, schriftlich festgehalten wurden, darunter die Stärkung der jüdischen Identität des Staates). Die jahrzehntelange Präsenz einer Besatzungsarmee und Millionen von Zivilisten unter militärischer Besatzung ist hingegen eine Situation, die nur eine der beiden Konfliktparteien erlebt.

Auf eine Anfrage der UN-Generalversammlung vom Dezember 2022 hin hat der Internationale Gerichtshof (IGH) in einem am 19. Juli 2024 veröffentlichten Gutachten betont, dass die Besetzung des palästinensischen Gebiets (Westjordanland mit Ostjerusalem und Gaza) illegal ist und unverzüglich beendet werden muss. Der IGH betonte außerdem, dass die israelischen Behörden die Palästinenser diskriminieren – indem sie ihnen illegal ihre natürlichen Ressourcen entziehen – und gegen Artikel 3 der Konvention gegen Rassendiskriminierung verstoßen, der sich auf Apartheid bezieht, ein Begriff, der vom Gerichtshof ausdrücklich verwendet wurde.

Er stellte außerdem klar, dass den Palästinensern Rückerstattungen, Entschädigungen und Ausgleichszahlungen für die 57 Jahre illegaler Besatzung zustehen. Wie die israelische Nichtregierungsorganisation B’Tselem dokumentiert hat, werden etwa »94 Prozent der jährlich in den israelischen Steinbrüchen im Westjordanland produzierten Materialien nach Israel transportiert«. Hinzu kommt, dass nach den Worten des israelischen Ökonomen Shir Hever, der die Zahlen zu humanitärer Hilfe, Auslandshilfe und Besatzungskosten aufgeschlüsselt hat, »mindestens 72 Prozent der internationalen Hilfe« für die Palästinenser in der israelischen Wirtschaft landet.

Wer sich nicht klar gegen diese und viele andere »Anomalien« ausspricht, stärkt und unterstützt Israel nicht, sondern schwächt es, indem er Formen struktureller Unterdrückung billigt, die den Extremismus aller Beteiligten befeuern. »Eine Nation, die eine andere unterdrückt«, bemerkte der peruanische Intellektuelle Dionisio Inca Yupanqui 1810, »schmiedet ihre eigenen Ketten«.

Dieser Text ist am 25. Juli in unserem Partnermedium »Il Manifesto« erschienen. Der mit KI-Programmen übersetzte Beitrag wurde nachbearbeitet und gekürzt.
Der Autor Lorenzo Kamel ist Professor an der Universität Turin und Spezialist für die Geschichte des Nahen Ostens und Nordafrikas.

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